Tina Campbell: „Betroffenen zuzuhören hat mich verändert"
Anne Preckel – Vatikanstadt
Begegnungen mit Betroffenen von Missbrauch ziehen sich wie ein roter Faden durch Campbells 23-jährige Laufbahn. „Und ich denke, dass dies meine Arbeit und mein Verständnis wirklich bereichert“, ist sie nach wie vor überzeugt. Beim Umgang mit dem Thema kommt sie selbst manches Mal an ihre Grenzen. Für Campbell ist dies aber kein Grund, diesen Dienst niederzulegen. Sie sagt: „Betroffenen zuzuhören hat mich im Laufe der Jahre tiefgreifend verändert“.
Zuhören
Worauf es ankommt, wenn man Menschen zuhört, die tief verletzt wurden? „Von entscheidender Bedeutung ist die Qualität des Zuhörens. Wir müssen mit unseren Ohren und unserem Herzen zuhören. Und wir dürfen keine Angst vor dem Zuhören haben und müssen offen für dieses Zuhören sein“, sagt die Expertin. Offen auch dafür, uns selbst zu verändern, und bereit dazu, Konsequenzen zu ziehen, fährt sie fort. Das sei man den Menschen, die sich oft nach Jahren des Schweigens offenbarten, schuldig. Papst Franziskus‘ Ideal einer „hörenden“ und „Wunden verbindenden Kirche“ nimmt die Katholikin und Therapeutin sehr ernst.
„Es ist nicht genug für ein Opfer, es ist nicht genug für die Kirche als Zuhörerin, wenn jemand mit einem Trauma kommt, der seine Verwundung so lange mit sich herumgetragen hat, und wenn dann die Person, die ihn empfängt, nichts tut oder sich selbst nicht verändert.“ Das gelte für die Kirche insgesamt, von der sich Campbell ein sensibleres Umgehen mit Betroffenen und einen Mentalitätswandel wünscht: „Es muss sich die Art und Weise ändern, wie die Kirche auf die Opfer reagiert, wie sie Prävention und die Bedeutung einer Kultur des Schutzes wahrnimmt, aber es müssen sich auch die Personen selbst ändern.“
Auch Papst Franziskus hat mit Blick auf das Problem des Missbrauchs innerhalb der Kirche einen Mentalitätswandel angemahnt. Beim ersten kirchlichen Kinderschutzgipfel vor fünf Jahren im Vatikan betonte er, den Opfern sei „in jeder Hinsicht Vorrang“ zu geben und eine „Abwehrhaltung zum Schutz der Institution zu bekämpfen“. Der Papst wandte sich damit auch explizit gegen Reflexe der Relativierung, Verleugnung und Vertuschung. Kirchlicher Missbrauch sei in moralischer und ethischer Hinsicht „noch schwerwiegender und skandalöser“ als anderswo, ging Franziskus mit der Kirche ins Gericht.
Ein tieferes Mitgefühl
Wie haben 23 Jahre Präventionsarbeit Campbells Blick auf diese Institution geprägt? Die Auseinandersetzung mit klerikalem Missbrauch sei für sie eine Art „schmerzhafte Reise“ gewesen, sagt sie uns. „Ich weiß, dass ich am Anfang sehr frustriert war über die mangelnde Reaktion in bestimmten Teilen der Kirche, den Mangel an starker Führung, das Kleinreden des Schadens, den Missbrauch jemandem zufügen kann, und das Unvermögen zu verstehen, warum die Opfer manchmal jahrzehntelang warten, bevor sie den Missbrauch bekanntmachen“, erinnert sie sich.
Groll spricht aus Campbells Stimme aber nicht. Der jahrelange Blick auf Wunden und Verfehlungen hat sie nicht verhärtet, sondern ihre Einsichten tiefer und ihr Herz größer gemacht. Geholfen habe ihr dabei unter anderem die ignatianische Spiritualität, sagt Campbell. „Ich habe jetzt mehr dieses Gefühl… ein tieferes Gefühl des Mitgefühls“, sagt sie und meint in diesem Fall nicht die Missbrauchsopfer. Sie meint Menschen in der Kirche, die Missbrauch nicht sehen wollen oder können, die ihrer Verantwortung nicht gerecht werden, die versagen. Campbell fährt fort: „Weil ich weiß, dass ein Teil der Verleugnung, der Angst und der Minimalisierung oft von einem Ort der Verwundung kommt. Und wenn man die eigene Verwundung vermeidet, dann kann man nicht gegen den Missbrauch eines anderen vorgehen“, sagt die ausgebildete Psychologin.
Mitgefühl ist nicht Nachlässigkeit
Ein solches „Mitgefühl“ meint bei Campbell gleichwohl keine Nachlässigkeit, wenn es darum geht, verletzliche Personen rigoros zu schützen und Prävention anzumahnen. Prävention ist ihrem Verständnis nach aber ein breiter Ansatz, der sich nicht allein auf die Kontrolle potentieller Täter richtet: Kern des „Safeguarding“ ist der Aufbau einer „Kultur des Schutzes“, die durch Transparenz, gegenseitige Fürsorge und ein gesundes Miteinander gekennzeichnet ist. Bei diesem Ansatz geht es nicht um kosmetisch-aktionistische Präventionsmaßnahmen oder das Delegieren von Prävention an Dritte. Es geht um eine grundlegende Transformation, die im Kopf und Herzen eines jedes Einzelnen beginnt. Viel gebe es hier noch zu tun, so Campbell.
Resistenzen
„Manchmal sagen die Leute, aber wir haben doch all diese ,Safeguarding‘-Leute geschult, es gibt jetzt viele Richtlinien und Leute mit Expertise, jetzt müsste es doch sicher besser sein. Die Realität ist, dass wir immer noch Menschen haben, die in der Kirche geschult und überprüft wurden und die dann missbrauchen. Deshalb braucht es eine Änderung der Einstellung, es braucht eine andere Wachsamkeit, ein Ende des Zusehens. Und es braucht den Mut, den Mund aufzumachen und vom ersten Tag der Ausbildung an ,Safeguarding‘ zu verankern und umzusetzen, im Herzen der Gemeinschaften.“
Campbell hat im Rahmen ihrer Arbeit die Situation in verschiedenen Ortskirchen der Welt kennengelernt. Es gebe da teils einige ähnliche Resistenzen, was das Nicht-Wahrnehmen oder sogar Leugnen des Phänomens Missbrauchs betrifft. Einerseits sei da der Blick auf die Sexualität. Das Thema überfordere oftmals und werde als „viel zu persönlich“ wahrgenommen, um darüber zu sprechen. Der Prävention sei dies nicht zuträglich: „Wenn wir einen Kontext haben, in dem Sexualität etwa nicht in der Ausbildung besprochen oder thematisiert wird, wird es eine große Zurückhaltung geben, überhaupt anzuerkennen, dass es zu sexuellem Missbrauch kommt, insbesondere im Kontext der Kirche.“
Zweitens ortet Campbell vielerorts „eine Unfähigkeit, die Schwere der Krise zu akzeptieren“. Besonders im Blick auf den Missbrauch von Ordensfrauen, den Papst Franziskus 2019 erstmals als Problem in der katholischen Kirche benannte, habe die Kirche noch „viel Arbeit vor sich“, so die UISG-Beraterin. „Es bedarf einer enormen Bildungsarbeit und der Schaffung wirklicher Sicherheit für Ordensfrauen, damit sie an die Öffentlichkeit treten und zugeben können, was geschehen ist und was tatsächlich noch geschieht. Was den Missbrauch von Ordensfrauen betrifft, befinden wir uns im Moment an der Spitze eines Eisbergs. Wir haben uns noch nicht wirklich darauf konzentriert, die Tiefe und das Ausmaß des Leidens zu erforschen.“
Der Papst hatte im Februar 2019 vor Journalisten erstmals eingeräumt, dass es Missbrauch an Ordensfrauen in der Kirche gebe. Im Mai 2019 sagte Franziskus vor Ordensoberinnen aus aller Welt im Vatikan, der Missbrauch von Ordensfrauen in der katholischen Kirche sei ein schweres Problem, auch in Form von Macht- und Gewissensmissbrauch.
Angst und Machtmissbrauch
Das liege zum Teil daran, dass einige Ordensfrauen nicht über den erlebten Missbrauch sprächen - aus Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird. Und nicht nur das: „Ich kenne einige junge Ordensfrauen, die befürchten, dass sie aus ihrer Kongregation entlassen und nach Hause geschickt werden, wenn sie etwas sagen. Das ist also eine enorme Angst, die da herrscht.“ Auch das Machtgefälle zwischen Opfern und Tätern, seien es nun Männer oder Frauen, spiele in den kirchlichen Strukturen weltweit eine Rolle, so Campbell. Sie ruft dazu auf, hinzuschauen und den Missbrauch nicht kleinzureden oder zu ignorieren, nur weil nicht darüber gesprochen wird.
„Ich weiß, einige werden auch sagen: Es ist eine kulturelle Frage, Tina, es ist die Kultur. Ich habe mit dem Missbrauch des Wortes Kultur meine Probleme, weil Kultur fast als Ausrede dafür benutzt wird, nichts zu tun. Ein guter Freund von mir sagte mir vor einiger Zeit: Die einzige Kultur sollte die des Evangeliums sein, denn da geht es um Wahrheit und Freiheit. Wie können wir solche Barrieren abbauen? Die Kultur, die wir schaffen sollten, ist eine Kultur der Prävention und des Schutzes und keine Kultur der Verleugnung und Vertuschung.“
Für den kirchlichen Umgang mit den Betroffenen hat Tina Campbell weitere Empfehlungen. Dass die weltweite Einrichtung von Meldestellen für Missbrauch in den Ortskirchen verlangte, zielt für die Präventionsexpertin in die richtige Richtung. Fünf Jahre nach der päpstlichen Weisung seien viele dieser Stellen allerdings noch ausbaufähig, so Campbell, „aber die Tatsache, dass sie als wichtig angesehen werden, ist ein sehr gutes Zeichen“.
Was Therapieangebote für Betroffene angeht, die die Kirche unterstützt, empfiehlt die Fachfrau mehr Wahlfreiheit für die Überlebenden: Sie sollten selbst entscheiden können, wo und welche Therapie sie erhalten, auch sei wichtig, dass Therapeuten den spezifisch kirchlichen Kontext berücksichtigten, in der der Missbrauch geschah. Hier spielen etwa Themen wie geistlicher Missbrauch und Klerikalismus, aber auch das Umgehen mit Schuld im katholischen Kontext eine Rolle.
Missbrauch erschüttert auch die Gemeinschaft
Campbells Beobachtung nach gilt es zudem, die Auswirkungen von Missbrauch nicht allein auf Einzelne, sondern auch auf Gemeinschaften stärker in den Blick zu nehmen. „Sehr oft erlebe ich, dass Opfer, wenn sie sich an höhere religiöse Vorgesetzte, an Bischöfe oder sogar an Schutzbeauftragte wenden, fast isoliert behandelt werden und manchmal nicht zur Kenntnis genommen wird, dass diese Person aus einem sozialen Kontext stammt. Sie kommt aus einem Kontext, in dem sie Beziehungen hat, die durch den Missbrauch und die Verletzung beschädigt worden sein könnten.“ Die Kirche solle sich hier fragen, wie sie neben dem Opfer auch die Familien oder Ordensgemeinschaften besser unterstützen kann.
Und wie kümmert sich die Schutzbeauftragte um sich selbst? Was gibt Tina Campbell Kraft? Da sei einerseits ihr Safeguarding-Netzwerk, berichtet sie, andere Menschen, die sich in diesem Bereich engagieren. Das bringe ihr viel Energie, „weil wir das Gefühl haben, dass wir das gemeinsam tun“, formuliert sie. Auch ihre Studenten am IADC-Safeguarding Institut, die nach den Trainings Präventionsmaßnahmen direkt in ihren Kontexten anwenden und weltweit an einer Kultur des Schutzes arbeiten, sind für Campbell eine Inspiration. Auch habe sie einen guten spirituellen Begleiter, der sie in herausfordernden Momenten unterstütze.
Es sei „wichtig, dass ich verarbeite, was in mir passiert“, sagt die Psychologin weiter, „denn wenn ich das nicht tue, kann es gefährlich sein“. Dabei spiele für sie Ehrlichkeit sich selbst gegenüber eine große Rolle, so Campbell: „Wenn ich ehrlich genug bin zu sagen, dieses Treffen, mit diesem Täter, das war schwierig, es war belastend für mich. Es ist Teil der Fürsorge, solche Gefühle zu verarbeiten und zu verstehen“.
Zur Person
Campbell begann ihre Laufbahn vor über 20 Jahren. Sie war zunächst diözesane Schutzbeauftragte und dann nationale Präventionsbeauftragte der Schottischen Bischofskonferenz, später arbeitete sie im Bereich Prävention für den Jesuitenorden. Heute wirkt die gebürtige Britin als unabhängige Expertin, in verschiedenen Ländern der Welt. Aktuell berät Campbell die Internationale Vereinigung der Ordensoberinnen (UISG), betreut mehrere Ordensgemeinschaften und bildet im Bereich Safeguarding aus und weiter. Ihre Aufgaben als sind vielfältig - ob die Entwicklung von Präventionsrichtlinien, die Durchführung von Schulungen und Workshops, die Verbesserung der Ausbildung in Ordensgemeinschaften, die Voruntersuchung mutmaßlicher Missbrauchsfälle oder die Moderation von Gruppen in Aufarbeitungsprozessen. Das Interview mit Tina Campbell wurde nach einer Fortbildung am IADC Institut in Rom im Januar 2024 geführt.
(vatican news)
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