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Menschen in Beirut beobachten einen Sonnenuntergang. Die breite Masse will keinen Krieg. Menschen in Beirut beobachten einen Sonnenuntergang. Die breite Masse will keinen Krieg.   (AFP or licensors)

Heiliges Land: „Verständnis für andere Seite massiv gesunken"

Angesichts neuer Spannungen zwischen dem Libanon und Israel und dem Krieg im Gazastreifen sieht Simon Kuhl von missio Aachen wenig Chancen für Deeskalation. Dabei gebe es „eigentlich in jeglichem Lager Stimmen, die zu Besonnenheit, Vernunft und Frieden aufrufen“, so der Nahost-Referent im Interview mit Radio Vatikan. „Allerdings werden diese Stimmen weniger gehört.“

Anne Preckel - Vatikanstadt

Simon Kuhl ist der Projektverantwortliche für den Nahen Osten beim katholischen Hilfswerk missio Aachen. Er hat zur Zeit des letzten Libanonkrieges in den Jahren 2005 und 2006 in Israel gelebt. Im Gespärch mit Radio Vatikan berichtet er über Hintergründe des jüngsten Angriffs in der Drusenstadt Majdal Schams und skizziert das Leid der Bevölkerung im Gazastreifen und im Südlibanon. Außerdem berichtet er darüber, welche Traumata der Terrorangriff der Hamas vom Oktober 2023 in Israels Gesellschaft hinterließ. 

Kirchenführer wie der Lateinische Patriarch von Jerusalem, Pierbattista Pizzaballa, bemühten sich unermüdlich um Frieden und einen Kontakt zur notleidenden Bevölkerung, lobt der missio-Referent. Auch auf Seiten der involvierten Konfliktparteien gebe es „eigentlich Stimmen, die zu Besonnenheit, Vernunft, Frieden aufrufen“. Allerdings fänden diese Stimmen angesichts der Opfer und des erfahrenen Leids kaum Gehör.   

missio-Hilfe in Nahost

Angesichts der Eskalation im Nahen Osten hat das internationale katholische Hilfswerk missio Aachen und für Flüchtlinge im Südlibanon auf den Weg gebracht. Dabei arbeitet es in einem Netzwerk lokaler Partner auch in weiteren Ländern der Region.

Pope befragte Kuhl an diesem Dienstagmorgen zunächst mit Blick auf die jüngste Attacke auf den Golan-Höhen in Israel, die die katholischen Bischöfe des Heiligen Landes verurteilt haben. 

Interview

Pope: Herr Kuhl, letzten Samstag hat mutmaßlich die libanesische Hisbollah die Golanhöhen beschossen, dabei starben mehrere Menschen, vor allem Kinder. Israel reagiert bzw. droht mit weiterer Vergeltung. Was ist der letzte Faktenstand, soweit einsehbar, was ist der Kontext dieses Vorfalls?

Kuhl (Nahost-Projektreferent beim katholischen Hilfswerk missio Aachen): Seit dem 8. Oktober 2023 beschießt die Miliz Hisbollah den Norden Israels in direkter Reaktion auf das Massaker der Hamas im Grenzgebiet zu Gaza. Und seitdem kommt es beinahe täglich zu Auseinandersetzungen, zu Scharmützeln. Die Hisbollah betont eigentlich immer wieder, keine Zivilisten anzugreifen, sondern ausschließlich militärische Ziele. In den vergangenen Monaten sind dennoch 22 Zivilisten auf israelischer Seite ums Leben gekommen. Laut israelischen Angaben ist die Rakete, die jetzt in Majdal Schams einschlug, iranischer Bauart und wird im Libanon auch nur von Hisbollah genutzt. Die Hisbollah brüstet sich zwar damit, sehr präzise mittlerweile Schläge ausüben zu können. Dennoch kann auch bei sehr moderner Raketentechnik natürlich immer mal ein Fehlschlag passieren. Meiner Einschätzung nach war das kein gezielter Angriff auf dieses Fußballfeld. Aber das ist noch nicht gesichert zu sagen.

Pope: Die Attacke vom Samstag traf die drusische Gemeinschaft in Israel. Was ist das für eine Gemeinschaft?

Kuhl: Die Drusen sind eine kleine arabische Minderheit. Es ist die einzige arabische Minderheit, die in den israelischen Streitkräften dienen und durchaus auch in operativen Einheiten, in Eliteeinheiten. Es ist ein wenig zweigeteilt: Die Gemeinde, die jetzt getroffen wurde, befindet sich auf den besetzten Golanhöhen, und die haben ganz bewusst auch keine israelischen Pässe angenommen. Andere Drusen haben auch israelische Pässe. Die Drusen, die da jetzt betroffen waren, fühlen sich teilweise als Syrer. Generell lässt sich aber sagen, dass die drusische Minderheit durchaus beliebt ist.

Trauer um die Opfer, darunter viele Kinder

Pope: Bei der Trauerfeier für die Opfer auf den Golanhöhen gab es Kritik an der Teilnahme israelischer Politiker, war zu hören. Wie ist das einzuordnen?

Kuhl: Da gibt es verschiedene Theorien. Eine besagt: Wenn Menschen trauern um ihre Kinder, sehen sie es als nicht adäquat an, wenn da jetzt Politiker auftauchen, vielleicht auch nur, um dramatische Bilder zu kreieren. Die Familien möchten einfach in Ruhe trauern. Das andere ist, dass die Regierung Netanjahu natürlich ohnehin unter großem Druck steht. Das war bereits vor dem Krieg so, es gab die größten demokratischen Demonstrationen seit Jahrzehnten. Im Normalfall ist es so in Israel: Sobald es Krieg gibt, hält die Gesellschaft zusammen und steht hinter der Regierung. Nun dauert der Krieg schon 300 Tage, und dieser Rückhalt sinkt. Viele fordern endlich ein Geiselabkommen. Aber die israelische Gesellschaft ist höchst fragmentiert. Es gibt rechtsextreme Minister, die eine Wiederbesetzung von Gaza fordern, die fordern, dass Gaza wieder von Israelis besiedelt wird. Die Stimmung ist sehr unterschiedlich. 

Pope: Würden Sie sagen, dass die israelische Öffentlichkeit das Vorgehen im Gazastreifen aktuell noch in der Breite mitträgt?

Kuhl: Das ist schwierig zu sagen bei solch einer fragmentierten Gesellschaft. Man muss sich vor Augen halten: Das Massaker des 7. Oktober 2023 ist singulär. Es hat ein nationales Trauma hervorgerufen. Die Menschen waren geschockt. Und da war natürlich der erste Impuls: Israel muss reagieren, und zwar hart. Nun, in Anbetracht von mehr als 38.000 Opfern, großteils Zivilisten, und der Tatsache, dass sich immer noch viele Geiseln in Gaza befinden, sinkt dieser Rückhalt. Das sieht man auch an den wöchentlichen Demonstrationen. Insofern denke ich, der Rückhalt ist nicht mehr so gegeben wie noch zu Beginn des Krieges.

Verhärtete Fronten

„Die Regierung Netanjahu scheint mittlerweile resistent zu sein gegenüber Ratschlägen oder auch Druck seitens der Amerikaner.“

Pope: Die katholischen Bischöfe im Heiligen Land haben zu Gewaltverzicht aufgerufen: Der Kreislauf der Gewalt müsse enden, die Zukunft der Kinder und Gemeinschaften hänge davon ab. Auch der Papst hat in den letzten Monaten wiederholt zu Deeskalation gemahnt. Fallen diese Appelle auf fruchtbaren Boden?

Kuhl: Der Lateinische Patriarch Pizzaballa hat sich wirklich von Beginn des Krieges an sehr für Frieden eingesetzt. Auch hat er sich stets bemüht, den Kontakt zu halten zur einzigen christlichen Pfarrei in Gaza. Allerdings muss man sehen: Es gibt aktuell jetzt im Norden zwei direkte Akteure. Das ist die Hisbollah und das ist Israel. Israel ist im Normalfall höchstens bereit, sich auf Druck der Amerikaner einzulassen. Da hat sich auch einiges geändert. Die Regierung Netanjahu scheint mittlerweile resistent zu sein gegenüber Ratschlägen oder auch Druck seitens der Amerikaner. Nun ist Biden aufgrund der aktuellen Ereignisse um seinen eigenen Wahlkampf, um seinen Rückzug sicherlich arg geschwächt. Netanjahu sagt deutlich, dass er einen Präsidenten Trump bevorzugt und vielleicht auch etwas auf Zeit spielt. Die schiitische Miliz Hisbollah hingegen ist weisungsgebunden gegenüber Iran. Insofern denke ich, dass aktuell die Aufgabe der Bischöfe wirklich ist, zu Solidarität, Frieden, Dialog und Völkerverständigung aufzurufen, der direkte Einfluss aber leider eher als gering einzuschätzen ist.

Stimmen, die zu Frieden aufrufen

Pope: Eine Spirale aus Gewalt und Gegengewalt ist in Gang, Beobachter sprechen von einem neuen drohenden Flächenbrand. Welche mäßigenden religiösen Stimmen gibt es in der Region - neben den Christen auch auf jüdischer und muslimischer Seite – und wie argumentieren sie?

Kuhl: Es gibt weiterhin in jedem Lager Stimmen, die zu Besonnenheit, zu Vernunft, zu Frieden aufrufen. Allerdings werden diese Stimmen weniger gehört. Gaza ist verwüstet. Meiner Meinung nach ist da auf die nächsten Generationen hinaus jedes Verständnis für die andere Seite leider massiv gesunken. Jede Seite kann Todesopfer beklagen. Gerade die palästinensische Seite ist so viel Leid, Entsetzen und Traumata ausgesetzt, dass aktuell, glaube ich, der Dialog mit der anderen Seite sehr schwierig ist.

„Es gibt weiterhin eigentlich in jeglichem Lager Stimmen, die zu Besonnenheit, zu Vernunft, zu Frieden aufrufen. Allerdings werden diese Stimmen weniger gehört.“

Dramatische Lage im Gazastreifen

Pope: Im Gazastreifen leidet die Bevölkerung unter Luft- und Bodenangriffen Israels, während die Terrororganisation Hamas bewusst aus zivilen Gegenden operiert. Welche Infos haben Sie über die aktuelle Lage der rund 1.000 Christen vor Ort?

Kuhl: Man kann die Lage nur als dramatisch beschreiben. Gaza ist verwüstet, die Menschen haben keine Chance zu fliehen. Die Grenzübergänge sind weiterhin dicht. Zunächst sollten mehrere 100.000 Menschen in südliche Gefahr fliehen. Dann mussten sie von dort wieder fliehen. In Chan Yunis haben wir eine ähnliche Situation. Es gibt keine sicheren Orte mehr in Gaza. Die Christen haben sich eigentlich seit Beginn des Krieges auf dem Gelände der einzigen christlichen Gemeinde und Pfarrei verschanzt, sozusagen. Aber auch dort waren sie nicht sicher. Das Gebäude wurde teilweise zerstört von israelischen Raketen. Es gab sogar Berichte über Treffer durch Scharfschützen. Viele christliche Stimmen gehen davon aus, dass, sobald die Grenzen wieder geöffnet sind, die christliche Präsenz in Gaza gegen Null tendieren wird.

Flucht, Evakuierungen und Unsicherheit im Südlibanon

Pope: Wie ist die Lage aktuell im Südlibanon?

Kuhl: Im Vergleich zu Gaza ist die Lage der Menschen im Südlibanon sicherlich weniger dramatisch. Die geschäftsführende Regierung des Libanon hat keine Evakuierung angeordnet, wie es im Norden Israels der Fall ist. Dort sind zigtausende Menschen seit Monaten evakuiert und in Hotels im Süden des Landes untergebracht. Die täglichen Auseinandersetzungen haben sich bisher schon eher auf militärische Stellungen der Hisbollah beschränkt. Dennoch sind circa 500 Menschen auf libanesischer Seite gestorben. Es gibt Fluchtbewegungen. Missio hat auch ein Nothilfeprojekt aufgesetzt, um christlichen Familien aus dem Süden zu helfen, gen Norden zu fliehen. Das ist so die Lage, wie sie unsere Partner uns aktuell spiegeln.

Das Leid wächst, überall

Pope: Fakt ist, dass das Leid wächst, in Israel, im Gazastreifen, im Südlibanon. Auch in Afrika, wo Länder von Handelsrouten über das Rote Meer abhängen, wo auch Flüchtlinge in die Bedrouille geraten durch die Spannungen mit den Huthi. Der große Teil dieser Bevölkerungen will keinen Krieg. Können Sie das bestätigen?

Kuhl: Absolut. Die Menschen im Libanon wollen ganz sicher keinen Krieg. Das Land ist ohnehin von so viel Leid geplagt. Erst der Bürgerkrieg, dann jahrelange Besatzung durch Israel, 2006, dann der letzte Libanonkrieg. Seit Jahren steht das Land in der schwersten ökonomischen Krise seit Staatsgründung. Auf der israelischen Seite sieht es vielleicht anders aus. Zwar wollen auch dort sicherlich die Menschen keinen Krieg, aber sie sehen diese immanente Bedrohung durch die Hisbollah im Norden des Landes. Und viele Menschen sind der Meinung, diese Sicherheit muss wiederhergestellt werden. Und vielleicht sind sie auch der Meinung, dies geht dann nur über eine begrenzte Bodenoffensive. Das reicht nicht aus, wenn die Luftstreitkräfte dort Stellungen bombardieren. Denn wie gesagt, zigtausende Israelis sind seit Monaten nicht mehr in ihren Dörfern, in ihren Häusern, sondern wurden evakuiert. Und das hat auch immer wieder die Führung betont: Die Sicherheit Israels muss im Norden wiederhergestellt werden.

„Die Menschen im Libanon wollen ganz sicher keinen Krieg. (...) Auf der israelischen Seite wollen die Menschen zwar keinen Krieg, aber sie sehen diese immanente Bedrohung durch die Hisbollah im Norden des Landes.“

Hoffnung auf Deeskalation

Pope: Welche Ansätze zu Deeskalation und Annäherung sehen Sie als vertreter des katholischen Hilfswerkes missio Aachen?

Kuhl: Oft wird ja das Bild des Flächenbrand bemüht, und aktuell stehen wir da sicherlich so an einem Grenzpunkt. Auf allen diplomatischen Kanälen laufen gerade die Bemühungen auf Hochtouren, dass es nicht zu einem offenen Krieg kommt. Ich hatte zuvor schon erwähnt, dass der Einfluss der Amerikaner im Vergleich zur Vergangenheit aktuell eher geringer ausgeprägt ist. Der Einfluss der deutschen Regierung ist ohnehin begrenzt. Insofern sind die Zeichen, die für eine Deeskalation stehen, eher schwierig einzuschätzen. Es hat allerdings schon den Anschein, dass beide Seiten eigentlich keinen offenen Krieg wollen und somit die Hoffnung besteht, dass die Vergeltung, die sicherlich kommen wird beziehungsweise die Luftschläge der vergangenen Nächte, trotzdem nicht in einer massiven Bodenoffensive gipfeln. Denn daran haben weiterhin beide Seiten kein Interesse.

Pope: Vielen Dank für dieses Gespräch.

Die Fragen stellte Anne Preckel, Pope.

(vatican news – pr)

 

 

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30. Juli 2024, 10:48