Afghanistan: Situation von Frauen und Minderheiten weiter prekär
Pinar Dogantekin - Vatikanstadt
Im Jahr 2020 unterzeichneten die Vereinigten Staaten nach fast zwanzig Jahren Militäreinsatz ein Abkommen mit den Taliban, um ihre Truppen aus Afghanistan abzuziehen. Auch verbündete Staaten wie Deutschland und Frankreich beteiligten sich an dem militärischen Abzug. Bei diesem sogenannten Friedensprozess zwischen den USA und den Taliban wurden die Bedenken afghanischer Frauen hinsichtlich der potenziell eskalierenden Gewalt gegen sie jedoch größtenteils außer Acht gelassen.
Im August 2021 zogen die USA und andere Staaten ihre letzten Soldaten ab, während Mitglieder der Taliban schon vor den Toren der afghanischen Hauptstadt Kabul standen. Am 15. August übernahmen die Terroristen die Stadt, was den endgültigen Zusammenbruch der Afghanischen Republik signalisierte. Nur zehn Tage später erließen die Taliban ihre erste Anordnung, in der Frauen und Mädchen in Kabul aufgefordert wurden, in den Häusern zu bleiben.
Der Aufstieg des Taliban-Regimes markierte nicht nur eine bedeutende politische Umwälzung und eine der schwersten humanitären Krisen weltweit, sondern bedeutete auch einen rapiden Rückschritt in Bezug auf Frauenrechte in Afghanistan. Trotz anfänglicher Versprechungen der Mäßigung drängten die Taliban aggressiv zwei Jahrzehnte an Fortschritten von afghanischen Frauen und Mädchen zurück.
Islamische Gelehrte verurteilen Verordnungen gegen Frauen als unislamisch
Das Terror-Regime hat dies erreicht, indem es etwa achtzig Verordnungen erlassen hat, die sich direkt gegen Frauen und Mädchen richten. Das internationale Recht lehnt die Verwendung von Kultur oder Tradition als Rechtfertigung für Eingriffe in fundamentale Menschenrechte eindeutig ab. Zudem haben islamische Gelehrte aus Afghanistan und anderen Teilen der Welt die Taliban-Verordnungen gegen Frauen als unislamisch verurteilt. Vor der Übernahme durch die Taliban machten Frauen in Afghanistan bedeutende Fortschritte in allen Lebensbereichen - wirtschaftlich, kulturell, sozial und politisch. Dies deutet darauf hin, dass diese Verordnungen weniger eine Reflexion der Kultur sind als vielmehr ein Mechanismus zur Kontrolle.
Zusätzliche Risiken für Minderheitenfrauen
„Diese Bedenken sind besonders dringlich für Frauen aus ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheiten wie den Hazara“, erklärt Tabea Giesecke von der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) gegenüber Pope. Die international tätige Nichtregierungsorganisation mit Sitz in Göttingen setzt sich weltweit für den Schutz von Minderheiten ein.
Mit einem Bevölkerungsanteil von etwa zehn Prozent sind die Hazara die drittgrößte Ethnie im Land und bilden als Schiiten gleichzeitig die größte religiöse Minderheit. Frauen aus Minderheiten-Gruppen sind aufgrund ihrer unterschiedlichen Identitäten und ihrer erhöhten Sichtbarkeit zusätzlichen Risiken ausgesetzt, was sie in der aktuellen Situation in Afghanistan noch anfälliger für gezielte Gewalt macht.
„Die doppelte Belastung, die Minderheitenfrauen unter diesen Verordnungen tragen, ist eine harte Realität, die oft übersehen wird“, beobachtet Giesecke, die Referentin für ethnische, sprachliche und religiöse Minderheiten und Nationalitäten bei der GfbV ist. Die Bewegungseinschränkungen der Taliban haben Frauen effektiv in ihren Häusern und innerhalb der Grenzen Afghanistans eingesperrt.
„Das Verbot internationaler Reisen ohne männliche Begleitung unterbindet jegliche Möglichkeit, im Ausland Schutz oder Chancen zu suchen, und lässt Aktivistinnen und andere gefährdete Personen ohne Fluchtmöglichkeit zurück. Die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit durch die Taliban haben eine Umgebung geschaffen, in der Haushalte, die von Frauen geführt werden, unverhältnismäßige Schwierigkeiten haben, da sie ohne männliche Begleitung nicht zu Orten für die Verteilung von Hilfe gelangen können“, beklagt Tabea Giesecke im Interview mit Pope.
Folgen der Unterdrückung
Der deutliche Anstieg der systematischen Unterdrückung von Frauen und Mädchen hat alle Bereiche des täglichen Lebens beeinträchtigt, wie von internationalen Organisationen berichtet wird. Die Auswirkungen dieser Verordnungen sind weitreichend und komplex, gehen über unmittelbare Fragen wie den Zugang zur Gesundheitsversorgung oder wirtschaftliche Chancen hinaus. Langfristig verstärkt die systematische Verweigerung grundlegender Menschenrechte Ungleichheiten in Bezug auf Wohlstand, Gesundheit und Bildung. „Mädchen dürfen nur noch bis zur 6. Klasse die Schule besuchen. Junge Frauen dürfen nicht mehr studieren. Diese Herausforderungen führen in Summe zu einem Teufelskreis von Benachteiligungen mit tiefgreifenden Auswirkungen, die Generationen brauchen werden, um behoben zu werden“, erklärt Tabea Giesecke von der GfbV.
Das Ergebnis ist eine schwerwiegende Krise der psychischen Gesundheit bei afghanischen Frauen und Mädchen. Afghanistan ist nun eines der wenigen Länder weltweit, in denen die Suizidraten bei Frauen höher sind als bei Männern, was ein alarmierendes Zeichen für die extreme psychologische Wirkung der unterdrückerischen Politik der Taliban ist.
Männer als Instrumente der Unterdrückung
Die Taliban haben ihre Verordnungen durch die Einrichtung neuer Institutionen zur Überwachung von Frauen und die Umnutzung bestehender Sicherheitsinfrastrukturen effizient durchgesetzt. Frauen werden nach Festnahmen und Folter nur unter der Bedingung freigelassen, dass ihre Familien zu Hause strikte Einhaltung der Taliban-Regeln erzwingen. Diese Durchsetzungsstrategien des Taliban-Regimes sollen auch dazu dienen, dass männliche Familienmitglieder für die vermeintlichen Verstöße ihrer weiblichen Verwandten bestraft werden. Sie sollen Männer dazu zwingen, sicherzustellen, dass die Frauen in ihren Familien die Verordnungen der Taliban befolgen. Diese Politik unterwirft Frauen nicht nur direkt, sondern zwingt auch Männer zur Teilnahme an diesem unterdrückerischen System.
Wichtige Rolle der Kirche als Fürsprecherin
Die katholische Hilfsorganisation Caritas hat ihre Arbeit vor Ort ein paar Monate nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021 größtenteils eingestellt. Nur noch wenige Mitarbeitende beobachten die Lage vor Ort. Auch viele kleinere Hilfsorganisationen mussten das Land aus Sicherheitsgründen für ihr Personal verlassen. Große kirchliche Organisationen wie Caritas und Malteser unterstützen weiterhin kleinere Partnerorganisationen wie Union Aid, die in Afghanistan aktiv bleiben, indem sie Geldspenden für Lebensmittel, medizinische Versorgung, Zelte, Decken und Hygieneartikel bereitstellen. „Um die Situation für Frauen und Minderheiten in Afghanistan zu verbessern, kann die katholische Kirche nach wie vor einen wichtigen Beitrag leisten“, ist Tabea Giesecke überzeugt.
Sie hofft darauf, dass die Frauen, Mädchen und Minderheiten in Afghanistan international viel mehr Aufmerksamkeit bekommen. Wenn ihre Unterdrückung stärker in den Fokus rückt, können Wege der Hilfe erschlossen werden. Die GfbV-Referentin sieht im Interview mit Radio Vatikan hier auch die Kirche als eine wichtige Fürsprecherin:
„Frauen, Mädchen und Minderheiten wie die Hazara benötigen eine Plattform, damit sie von ihren Erfahrungen berichten können, damit ihnen zugehört werden kann. Auch die Kirche kann so eine Plattform sein und sich als Sprachrohr für betroffene Frauen und Mädchen stark positionieren. Je mehr Aufmerksamkeit wir für diese Themen erzielen können, desto besser können wir allen Opfern von Gewalt durch das Taliban-Regime versuchen zu helfen.“
(vatican news / UNO / wilson center - pd)
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