Radio-Akademie: Polen - Kirche im Umbruch (6)
Stefan von Kempis - Vatikanstadt
Mitten in Danzig, einer hübschen Hansestadt im Norden Polens an der Ostsee, steht seit sechs Jahren ein schräger roter Kubus: das Museum des Zweiten Weltkriegs. Der derzeitigen polnischen Rechtsregierung ist das Museum ein Dorn im Auge, weil es Kontroverses nicht ausspart und sich um einen differenzierten Blick auf ganz Osteuropa bemüht. Und trotzdem: In diesen unterirdischen Ausstellungssälen wird überdeutlich, wie grausam und rücksichtslos die Deutschen sich Polen von 1939 bis 1949 zur Beute machten. Und dass kaum ein Staat unter den Nazis so gelitten hat wie der polnische.
„Was den Polen angetan wurde, ist in Deutschland nicht bekannt genug“
„Ich glaube tatsächlich, dass das in Deutschland nicht bekannt genug ist, weil es in Schulbüchern und Medienprogrammen zu wenig vorkommt.“ Das sagt uns der Direktor des Museums, Grzegorz Berendt. „Ich habe einmal deutsche Schulbücher untersucht und war wirklich überrascht, als ich feststellte, dass da ganz grundlegende Informationen nicht vorkamen. Zum Beispiel die Zahl polnischer Zivilisten, die während der deutschen Besatzung unseres Landes ihr Leben verloren haben.“
„Man findet in Ihren Schulbüchern detaillierte Angaben über die Todesopfer unter Juden; etwa die Hälfte der im Holocaust Getöteten waren polnische Staatsbürger. Zu diesen drei Millionen Menschen müssen wir aber noch etwa zweieinhalb Millionen nichtjüdische Opfer hinzuzählen, die polnische Staatsbürger waren. Das waren in der Regel keine Kombattanten, die im Krieg gefallen sind, sondern Zivilisten, die ermordet wurden! Etwa Vertreter der Elite und Akademiker – diese Menschen verloren wir schon zwischen Herbst 1939 und Sommer 1940.“
Bedrückende Zahlen
Berendt macht eine einfache Rechnung auf. In der Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg hätten nur etwa 80.000 Menschen in Polen ein Uni-Studium absolviert – und bis zum Ende des Ersten Weltkriegs hätten etwa 40.000 Menschen dieses akademische Niveau erreicht.
„Nun schauen Sie: Als der Zweite Weltkrieg vorüber war, ermittelten wir bei der ersten Volkszählung in Polen lediglich 30.000 Menschen mit einem Universitätsstudium. Wie sollte man mit so wenig gebildeten Menschen das Land wiederaufbauen? Ich bin mir sicher: Wenn wir in dieser Hinsicht die polnischen und die deutschen Verluste vergleichen, dann werden wir in Ihrer akademischen Schicht bei weitem nicht solche Verluste finden.“
Eine unvorstellbare Katastrophe
„Unser Land, unsere Gesellschaft hat nie zuvor eine solche Katastrophe in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht erlebt; das war etwas bis dahin Unvorstellbares. Dennoch weiß, so fürchte ich, die überwältigende Mehrheit der Deutschen nichts über das Ausmaß von Verlusten in Polen, aber auch in Belarus oder der Ukraine.“
Unwissen verortet der Historiker aber nicht nur bei den Deutschen. In kommunistischer Zeit sei es in Polen nicht möglich gewesen, bestimmte Aspekte der Vergangenheit zu untersuchen; so sei Forschung über die Kriegszeit in den früheren polnischen Ostgebieten (die heute zu Litauen, Belarus bzw. zur Ukraine gehören) tabu gewesen – und damit blieben etwa fünfzig Prozent des polnischen Territoriums der Vorkriegszeit außen vor. Den Kommunisten war nach Berendts Eindruck daran gelegen, dass nicht an die historischen Bindungen Polens an diese Gebiete erinnert werde. Hier habe die Forschung auch fast achtzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch viel aufzuholen und zu entdecken.
Generalplan Ost
„Aus meiner Sicht ist es auch wichtig, zu ermitteln, wer genau während des Krieges Verbrechen begangen hat – nicht nur die Personen, die jeder kennt wie Adolf Hitler, Heydrich, Himmler, Goebbels, sondern auch die Täter ganz unten in der Hierarchie des Nazi-Regimes. Wir und unsere Historiker arbeiten daran, Polen, Europa und der Welt neue Aspekte vor Augen zu führen. Das hatte es bis zum Zweiten Weltkrieg in Europa noch nie gegeben, dass ein moderner Staat beschloss, ganze Nationen auszulöschen. Die Juden waren als Erste dran; aber es gab dann auch einen sogenannten Generalplan Ost, in dem es darum ging, fünfzig Millionen Menschen aus den Territorien Polen, Ukraine, Belarus, Russland und dem Ural zu entfernen. Wie man mit den Juden umging, deutet uns an, wie man sich auch die Umsetzung dieses Generalplans Ost vorstellte.“
„Manchmal frage ich meine Studenten – und nicht nur sie: Was war eigentlich der Grund, solche KZs wie Auschwitz-Birkenau zu errichten, oder das KZ Stutthof bei Danzig noch im Jahr 1944, wenn das Dritte Reich doch schon dabei war, den Krieg zu verlieren? Wozu also? Für wen entwickelten sie immer neue und weitere Baracken? Wen wollten sie dorthin schicken? Zum Glück kam es nicht dazu, dass wir jetzt die Antwort wüssten, aber es ist doch auffallend, dass der deutsche Staat, obwohl er gerade den Krieg verlor, so viel Geld in die Entwicklung einer Infrastruktur des Todes investierte.“
Berendt findet es gerade mit dem Blick auf heute wichtig, die damaligen Geschehnisse genau zu studieren. Auch um, wie er sagt, damals begangene Fehler nicht ein zweites Mal zu machen. „Meiner Meinung nach haben wir durchaus etwas aus der Vergangenheit gelernt. Die Reaktion der demokratischen, freien Welt auf den 24. Februar 2022 war doch eine andere als in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts; damals sah sie zu, wie Hitler und das Dritte Reich ein Land, ein Territorium nach dem anderen schluckten, und blieb lange tatenlos. Diese Lektion haben wir als Europa gelernt, glaube ich; wir haben zusammen mit anderen sofort die Ukraine unterstützt. Vor über achtzig Jahren ist das anders gelaufen.“
„Polen sind Deutschen gegenüber nicht feindlich eingestellt“
Grzegorz Berendt stellt fest, dass immer wieder Schüler und Studenten aus Deutschland das neue Museum in Danzig besuchen. Sie seien oft überrascht, weil sie Völkermord bislang nur mit dem Schicksal des jüdischen Volkes in Zusammenhang gebracht hätten, vielleicht auch mit den Sinti und Roma, aber nicht mit den slawischen Völkern. Für polnische Besucher halte das Museum weniger Überraschungen bereit, weil das Thema Krieg immer noch sehr präsent sei in der Gesellschaft, bis in die Gespräche am familiären Küchentisch hinein. Das führe aber keineswegs dazu, dass die Polen in der Regel den Deutschen gegenüber feindlich eingestellt seien. „Für die überwältigende Mehrheit der Polen ist Deutschland ein guter Nachbar. Sie wissen zwar um die Vergangenheit, machen aber nicht die heutigen Deutschen für die Taten der Kriegsgeneration verantwortlich.“ Das klingt ein wenig anders als das, was wir zuvor in Warschau von dem Historiker Jan Å»arin gehört haben (siehe Folge 2).
Berendt versucht seine Einschätzung zu belegen: Auch nationalistische Ukrainer hätten doch Polen während des Zweiten Weltkriegs Fürchterliches angetan, sagt er mit Verweis auf Massaker an etwa 100.000 Polen in den Jahren 1943 bis 1945. „Und doch haben die Menschen an unserer südöstlichen Grenze nach dem 24. Februar 2022 Millionen von ukrainischen Flüchtlingen aufgenommen! Das zeigt doch: Menschen können trotz einer sehr traurigen Vergangenheit zusammenleben und neue, normale, freundliche Beziehungen aufbauen.“
Überhaupt ist der Historiker davon überzeugt, dass eine große Mehrheit der Polen „einen religiösen Zugang“ zum Thema Krieg hat. Als Katholiken verehrten wir doch Heilige als große Vorbilder; und ähnlich gingen die meisten Polen an ihre, wie er sagt, „Märtyrer und Helden“ aus der Kriegszeit heran. „Das waren nicht immer Soldaten, sondern manchmal ganz einfache Leute: Ladenbesitzer, Angestellte, kleine Beamte, die einfach in einem entscheidenden Moment treu zu ihrem Land standen. Von ihrem Leben lernen wir, was Wladyslaw Bartoszewski auf folgende Formel gebracht hat: ‚Es lohnt sich, anständig zu sein‘. Polen interessieren sich in der Regel nicht für Panzer, Gewehre, Helme, Uniformen oder Gleichschritt, sondern für Patriotismus oder das Konzept eines freien, unabhängigen, demokratischen Landes, wo die Bürger frei Entscheidungen treffen können.“
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(vatican news)
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