EU/Tunesien: Hier Konferenz, da Realität
Anne Preckel - Vatikanstadt
Händeschütteln, Fototermin und zukunftsträchtige Worte: eine „Konferenz zu Entwicklung und Migration“ versammelte am Wochenende auf Einladung von Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni Vertreter von 21 Staaten aus Europa, Afrika und Nahost. Die Abschlusserklärung zu dem Treffen, das mehr Zusammenarbeit beim Kampf gegen illegale Migration anstrebte, läse sich gut, findet Asylexperte Christopher Hein - wenn sie nicht so unerhört mit der Realität kollidierte.
„Ich bin tatsächlich konsterniert wegen dieses unglaublichen Widerspruchs zwischen den Fakten, die wir sehen und einer Sprache, die gerade auch in dieser Abschlusserklärung der Konferenz weitestgehend den aufnimmt. Also vieles davon oder alles könnte man perfekt unterschreiben – wenn es eben nicht nur Worte wären, die in dieser Weise so brutal mit der Realität kontrastieren.“
Brutale Realität
Wie brutal die Realität für Migranten ist, die in Nordafrika stranden oder auf dem Mittelmeer untergehen, weiß der ehemalige Vorsitzende des italienischen Flüchtlingsrates nicht nur durch die endlosen Todesstatistiken, sondern auch durch Schilderungen aus erster Hand - von Überlebenden, die auf ihrer Reise nach Europa durch die Hölle gingen.
Die toten Migranten in der tunesischen Wüste wurden auf der römischen Konferenz nur gestreift. Tunesien befinde sich „in einer schwierigen Situation“, merkte Italiens Ministerpräsidentin Meloni laut Medienberichten allgemein an. Ihr libyscher Kollege sagte demnach, Bilder wie das der toten Mutter mit Tochter wolle man „nie wieder sehen“. Auf die ernste Menschenrechtslage, ja Ausbeutungsmaschinerie gegen Flüchtlinge im eigenen Land kam er nicht zu sprechen.
Hein macht sich keine Illusionen. „Niemand will jemand anderem auf die Füße treten“, kommentiert er die Zurückhaltung der Politik.
Heikles diplomatisches Umfeld
Giorgia Meloni und andere europäische Politiker bewegten sich mit ihrer Suche nach Partnerschaften in Nordafrika „in einem sehr heiklen diplomatischen Umfeld“, wenn sie mit „diktatorialen Regierungen“ paktierten, fährt Hein mit Blick auf den Schutz der Menschenrechte und Schutzverpflichtungen fort: „Ich meine, es ist richtig, auch mit diesen Regierungen zu reden, aber gleichzeitig ist notwendig auch zu sagen: Es gibt Bedingungen. Bevor wir euch da jetzt fast eine Milliarde Euro rüberschicken, müsst ihr diese und jene Bedingungen erfüllen.“
Heins Kritik bezieht sich auf den jüngsten Flüchtlings-Deal der EU mit Tunesien. Europäische Spitzenvertreter, darunter Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, hatten Präsident Saied 900 Millionen Euro Finanzhilfen zugesagt. Im Gegenzug soll das afrikanische Land in Eigenregie die illegale Migration nach Europa verhindern. Dass die Eigenregie nicht näher definiert ist, findet Hein fahrlässig.
„Hier geht es um Bedingungen in Bezug auf Einhaltung und Respekt der Menschenrechte! In Bezug auf die interne Möglichkeit, überhaupt Rechtsschutz zu bekommen in Ländern wie Tunesien und Libyen, den es bisher überhaupt nicht gibt. Das sind Bedingungen, die an solche Finanzierungen geknüpft werden müssen - und das ist nicht geschehen“, beanstandet der Asylexperte.
Abschreckende Erfahrungen in Libyen
Mit Blick auf das fortdauernde „Drama“ der Migranten in der tunesischen Wüste mahnte Papst Franziskus am Tag der Migrations-Konferenz in Rom beim Mittagsgebet Europas und Afrikas Politiker zu mehr Menschlichkeit und Solidarität und rief zu „Hilfe und Unterstützung“ für die notleidenden Migranten in Tunesien auf.
„Notsituationen“ wolle man „mit einem integrierten Ansatz bewältigen, der auf den Aufbau einer multidimensionalen und langfristigen Partnerschaft auf Augenhöhe abzielt“, erklärte die italienische Regierung in ihrer zur mediterranen Migrationskonferenz. Welche Not ist gemeint? Auf Augenhöhe mit wem? Die mit Migranten wohl eher nicht. Sie werden zwischen nordafrikanischen Staaten wie „eine heiße Kartoffel“ hin- und hergeschoben, formuliert Hein; von Libyen habe sich die Route inzwischen nach Tunesien verlagert.
Zwischen 35 und 45 Prozent der Bootsmigranten, die in Libyen starten, würden heute in die Flüchtlingslager des Landes zurückgeführt, wo erschreckende Zustände herrschen. Die libysche Küstenwache, die im Auftrag der EU die Nordgrenze des Landes überwacht, leistet ganze Arbeit. Die Abschreckungspolitik funktioniere, Hein glaubt, dass sich in ganz Afrika inzwischen rumgesprochen hat, dass Libyen Lebensgefahr bedeute. „Und dann sagen sich natürlich die Flüchtlinge und Migranten in allen Ländern von Subsahara-Afrika, aber auch in Mittelasien: Warum sollen wir jetzt nach Libyen, gehen wir doch besser ins Nachbarland Tunesien.“
Pragmatismus
Was die Migrations- und Asylpolitik der amtierenden Regierung in Italien betrifft, versucht Hein „die Hoffnung“ nicht völlig aufzugeben. Die Abschlusserklärung zur Migrations-Konferenz schlage, wenn man an die harten populistischen Slogans Giorgia Melonis aus dem Wahlkampf denkt, schon auch einen neuen Tonfall an, so Hein. Für die Arbeitsmigration hat Italien zuletzt das Tor ein Stück weit geöffnet – wohl aus Pragmatismus: Italien fehlen Arbeitskräfte, insgesamt gut 450.000 ausländische Kräfte dürfen deshalb bis 2025 mit einer Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis ins Land, wie kürzlich bekannt wurde. Hein kommentiert:
„Das ist aber auch nur die Hälfte von dem, was Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften als die Notwendigkeit ausländischer Arbeitskräfte für die einheimische italienische Wirtschaft berechnet haben. Es ist ein Schritt in die richtige Richtung, ein kleiner Schritt, aber gerade in Bezug auf Flüchtlinge oder Menschen, die aus Kriegen oder Bürgerkriegen fliehen müssen, sind keine humanitäre Einreisevisen in Form von Quoten und Zahlenangaben sehr sichtbar", bedauert der Experte für Immigations- und Asylfragen Christopher Hein im Interview mit Radio Vatikan.
Die Flüchtlingspolitik der EU setzt dagegen weiter auf Abschottung und zweifelhafte Flüchtlings-Deals mit Anrainerstaaten in Nordafrika. Die Lebensrettung auf dem Mittelmeer liegt gleichzeitig praktisch brach. Was in Tunesien aktuell passiert zeigt, dass diese Politik einen humanitären Tiefpunkt erreicht hat.
(vatican news – pr)
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