Gef?ngnisseelsorgerin in Chile: Würde wiedergeben
Felipe Herrera-Espaliat und Anne Preckel, Vatikanstadt
Vergangene Woche waren bei Ausschreitungen in einem Frauengefängnis im honduranischen Támara mehr als 45 Menschen ums Leben gekommen. Viele Frauen starben bei einem Brand im Gebäude, einige wurden erschossen. Ursache waren den Erhebungen zufolge Auseinandersetzungen zweier rivalisierender Banden in der Haftanstalt.
Die chilenische Ordensfrau Nelly León von den Schwestern vom Guten Hirten leitet in Santiago die Stiftung ?Mujer, levántate“ [Frau, steh auf!], die ehemaligen Gefängnisinsassinnen bei ihrer Wiedereingliederung in Gesellschaft, Arbeit und Familie hilft. Die lateinamerikanische Gefängnislandschaft sei durch unmenschliche Haftbedingungen gekennzeichnet, sagt sie im Interview mit Radio Vatikan. Auf Frauen werde keine besondere Rücksicht genommen.
?Die Situation in den Gefängnissen ist im Allgemeinen für Frauen und Männer sehr prekär, das sind Lebensbedingungen zweiter, dritter oder vierter Klasse – als ob die Strafe der Straftäter und Straftäterinnen zusätzlich zu ihrem Freiheitsentzug unmenschliche Lebensbedingungen beinhalten müsse. Es gibt nur sehr wenige Gefängnisse, die Prozesse der Wiedereingliederung entwickeln. Die Frauengefängnisse sind de facto Männergefängnisse, die für Frauen angepasst wurden, Gefängnisse mit einer Frauenperspektive gibt es nicht, nicht in Chile und soweit ich sehe auch in anderen lateinamerikanischen Ländern nicht.“
Konflikte auch hinter Gittern
In den Gefängnissen reproduzierten sich die Konflikte und Bandenkriege der Vororte, so die Ordensfrau mit Blick auf die Ausschreitungen im Frauengefängnis von Támara. Die Mängel im Strafvollzug trügen ihren Teil dazu bei.
?Die rivalisierenden Banden, die in den Randbezirken oder in den Außenbezirken von Großstädten wie Santiago de Chile existieren, kommen ins Gefängnis. So entstehen Hass, Streitigkeiten oder Auseinandersetzungen zwischen den Banden, und es kommt zu Kämpfen. In einem prekären Strafvollzugssystem, in dem es keine Möglichkeit der Trennung dieser Banden auf dem Gefängnisgelände gibt, kommt es zu diesen großen Kämpfen. Der Strafvollzug kümmert sich oft nicht darum, diese Gruppen zu trennen oder richtig zu überwachen, und lässt zu, dass sich die Leute wie jetzt in Honduras gegenseitig umbringen. Auch in Chile kommt das manchmal vor. Das ist ein länderübergreifendes Problem.“
Die Ordensfrau setzt sich in Chile seit mehr als 30 Jahren für Frauen ein, die straffällig wurden, und bemüht sich um ihre Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Die (latein-)amerikanischen Gefängnisse seien immer noch stark dem System des Strafens verhaftet, berichtet Schwester León.
?Das läuft nach dem Motto: ,Sie haben sich schlecht benommen und wir müssen sie bestrafen‘. Dieser Ansatz ist sehr tief verwurzelt, (…) und der Verlust der Freiheit ist mit dem Verlust der Würde verbunden. ,Ich muss mich in einem Raum bewegen, in dem ich von anderen abhängig bin: Ich muss immer um Erlaubnis bitten, und wenn ich einen Fehler mache, werde ich bestraft.‘ Es ist eine ständige Belohnung oder Bestrafung: ,Wenn ich gut bin, bekomme ich einen Preis; wenn ich mich schlecht benehme, wenn ich einen Fehler mache oder hinfalle oder in einem Moment der Wut mit jemandem streite, werde ich bestraft‘.“
Strafen ist keine ultimative Lösung
León hält dieses System für nicht wirklich konstruktiv – weder mit Blick auf die effektive Prävention von Verbrechen und Rückfällen wie auch hinsichtlich der menschlichen Würde. Die inhaftierten Frauen hätten eine lange Geschichte des Schmerzes und der Frustration hinter sich und ?wurden von klein auf im Stich gelassen“. Ein System allein des Strafens biete hier keine Möglichkeit, aus dem Kreislauf der Gewalt auszubrechen.
?Was wir (in Lateinamerika, Anm.) brauchen, ist ein Übergang zu einem restaurativen Ansatz (,restorative justice‘, Anm.) anstatt eines Beharrens auf der bekannt strafenden Justiz. Diesen Ansatz verfolgen Gerichte und Justizministerien bereits in einigen europäischen Ländern. Beim alten Modell ist die Bestrafung nicht mit einer Wiederherstellung des Lebens verbunden, sondern es ist eine Bestrafung der Bestrafung willen, die für den verursachten Schaden verhängt wird.“
Immerhin gebe es in Chile inzwischen Ansätze, die Motive für Verbrechen besser zu verstehen und mit den Beteiligten gemeinsam für eine Wiedergutmachung zu arbeiten, berichtet die Ordensfrau, die Papst Franziskus 2018 bei dessen Besuch im Frauengefängnis von Santiago empfangen hatte.
Gemeinschaft heilen statt Täter nur wegschließen
Der Ansatz der ?restorative justice“ als Alternative zu den gängigen gerichtlichen Strafverfahren zielt auf die Wiedergutmachung materieller und immaterieller Schäden und eine Wiederherstellung positiver sozialer Beziehungen. Statt sich aufs Strafen und das Festsetzen Krimineller zu fixieren, geht es vielmehr um langfristige gesellschaftliche Heilung, etwa durch die Förderung der Reintegration und sozialen Arbeit. Elemente der ?Restorative Justice“ sind inzwischen in den meisten Rechtsordnungen westlicher Länder zu finden, etwa beim Täter-Opfer-Ausgleich in Deutschland. Dass Strafen und Abschreckung keine ,ultima ratio' sind und langfristig wenig bringen, ist inzwischen auch international bei vielen Kriminologen Konsens.
Papst Franziskus hat sich immer wieder für humanere Bedingungen in Gefängnissen und eine Reform des Strafvollzugs starkgemacht. ?Es darf keine menschliche Strafe ohne Horizont geben! Niemand kann sein Leben ändern, wenn er nicht einen Horizont sieht. Wir aber verbauen unseren Häftlingen oft genug das Blickfeld“, sagte er etwa vor Gefängnisseelsorgern im November 2019. ?Bitte sorgen Sie dafür, dass es in den Gefängnissen Ihrer Heimatländer immer Gefängnisse mit Horizont gibt! Sogar bei einer lebenslangen Haftstrafe – die aus meiner Sicht fragwürdig ist - sogar bei einer lebenslangen Haftstrafe sollte es einen Horizont geben.“
(vatican news – pr)
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