Französische Bischöfe beraten über Missbrauchs-Krise
Stefan von Kempis – Vatikanstadt
216.000 Minderjährige, die seit den fünfziger Jahren in Frankreich zu Opfern sexueller Übergriffe durch Priester oder Ordensleute geworden sein könnten. 330.000 mögliche Opfer, wenn man in den Kreis der Täter auch kirchliche Angestellte mit einbezieht. Das sind die schockierenden Zahlen, die die unabhängige Kommission vor einem Monat genannt hat. Und über die sich jetzt seit Dienstag die französischen Bischöfe beugen.
Die Stimmung im Marienwallfahrtsort in den Pyrenäen ist ernst. Die Bischöfe stehen unter Zugzwang, immerhin hat die Kommission auch eine Liste mit konkreten Maßnahmen veröffentlicht, die aus ihrer Sicht zu treffen wären. „Ich hoffe nur, dass jetzt alle Bischöfe gemeinsam aufstehen werden, um zu sagen: Wir wollen diese 45 Empfehlungen wirklich ernstnehmen und alles tun, um sie so schnell wie möglich umzusetzen.“
Opfer erst kurzfristig eingeladen
Das sagt Jean-Luc Souveton, Priester aus der Diözese Saint-Etienne – er wurde selbst als 15-Jähriger von einem Priester sexuell missbraucht. „Der Punkt, den ich hervorheben möchte, weil er der wichtigste ist, ist die Anerkennung der Verantwortung der Kirche. Dass man klar sagt: Wir erkennen die systemische Verantwortung der Kirche für die Geschehnisse an und verpflichten uns daher, zusammen mit allen Opfern daran zu arbeiten, alle 45 Empfehlungen des Berichts in Angriff zu nehmen.“
Sonderlich optimistisch ist Souveton nicht. Tatsächlich las sich das ursprüngliche Programm der bischöflichen Vollversammlung wie „business as usual“ – erst im letzten Moment wurde es geändert. Die Tagung startete einen Tag früher als ursprünglich vorgesehen, um über den Missbrauchsbericht zu reden und auch Opfer einzuladen. Souveton hat diese kurzfristige Änderung als eine Art Demütigung erlebt, als Mangel an echter Rücksichtnahme.
Immerhin haben sich die Bischöfe am Dienstag den ganzen Tag für das Thema Missbrauch Zeit genommen. „Viele – auch ich – waren aufgewühlt, wieder einmal erschüttert“, sagt François Touvet, Bischof von Châlons-en-Champagne, dem katholischen Radiosender RCF.
„Ich selbst, muss ich sagen, bin wieder wie vom Blitz getroffen, in der Tiefe meines Wesens ergriffen, bewegt. Doch die Emotionen hindern uns nicht daran, nachzudenken und uns mit den anderen Bischöfen und den Laien auszutauschen. Wir bleiben nicht bei den Emotionen stehen. Allerdings ist es wichtig, dass wir uns anrühren lassen, denn so können wir wirklich zum Kern des Themas vordringen, mit dem wir uns befassen müssen, und das ist ernst.“
Bischöfe versprechen energische Maßnahmen
Der Bischof verspricht, er und seine Kollegen würden sich jetzt an die Arbeit machen. „Wir werden nachdenken und sehen, wie und in welchem Tempo wir die Empfehlungen des Berichts und die Beschlüsse der Vollversammlung, die sich daraus ergeben, umsetzen können. Schließlich haben wir uns dazu gewissermaßen verpflichtet. Die Bischöfe sind entschlossen, Fortschritte zu machen!“
Das sagt auch Bischof Luc Crépy von Versailles: Er ist der Verantwortliche für das Missbrauchs-Dossier innerhalb der französischen Bischofskonferenz. Crépy sieht bei seinen Mitbrüdern einen „gemeinsamen Willen“ zu „energischen Maßnahmen“.
Von Forderungen, die Bischöfe sollten angesichts des Missbrauchs-Dramas jetzt geschlossen dem Papst ihren Rücktritt anbieten (Modell Chile), hält Crépy allerdings nichts. „Wissen Sie – wenn das Boot in einem Sturm ist, denke ich, dass es vielleicht am wichtigsten ist, am Ruder zu bleiben und zu versuchen, vorwärts zu kommen, damit es starke Worte, starke Gesten und starke Entscheidungen gibt. Meiner Meinung nach ist dies eine sehr verantwortungsvolle Haltung.“
Die Bischöfe bitten die katholischen Laien, ihnen zu helfen, jetzt die richtigen Schlüsse aus dem Missbrauchs-Bericht zu ziehen. Viele Laien allerdings haben die Geduld und das Vertrauen verloren; ein offener Brief ganz unterschiedlicher Katholiken, darunter bekannte Künstler und Journalisten, forderte vor ein paar Tagen, ein Konzil der französischen Kirche einzuberufen. So etwas ist im Kirchenrecht durchaus vorgesehen, als sogenanntes Plenarkonzil auf dem kanonischen Territorium einer Bischofskonferenz.
Rufe nach einem Nationalkonzil
„Wir möchten, dass die Stimme der Laien gehört wird“, erklärt Michel Cool, einer der Unterzeichner. „Natürlich muss die Bischofskonferenz ein solches Nationalkonzil akzeptieren; dann gibt es sehr präzise Regeln, wer daran teilnehmen könnte. Das Konzil würde das ganze katholische Volk repräsentieren – alle Getauften, ob sie nun eine Weihe empfangen haben oder nicht. Die Gesamtheit des Leibes der Kirche wäre da vertreten.“
Ringt sich also auch die französische Kirche in ihrer Not zu einer Art Synodalem Weg durch, wie ihn die Kirche im Nachbarland Deutschland beschritten hat? Es fehlt jedenfalls im Moment nicht an Vorschlägen, die in alle möglichen Richtungen zielen.
Olivier Savignac, Leiter eines Verbands von Missbrauchs-Opfern, freut sich über die jetzt aufgebrochene Unruhe in der Kirche. „Das ist eine Bewegung, die heilsam ist. Denn wir erwarten uns heute von der ganzen Kirche – nicht nur von den Bischöfen, die nur einige der Verantwortlichen sind, sondern von der ganzen Kirche –, dass sie sich die richtigen Fragen stellt. Es geht darum, dass sie reagiert, dass sie reflektiert und dass sie ihre Verantwortung wahrnimmt.“
Savignac, der in seiner Kindheit von einem Priester missbraucht wurde, kritisiert, dass Entscheidungen eines Ortsbischofs „nie angefochten“ würden. Sie würden auch nicht „evaluiert“, wie das in großen öffentlichen Unternehmen oder Institutionen gang und gäbe sei.
„Kirche braucht Transparenz und Evaluierung von Entscheidungen“
„Deshalb glaube ich heute, dass die Kirche vor allem durch Transparenz zu einer gesunden Haltung zurückfinden wird. Dazu gehört, dass sie lernt, sich selbst in Frage zu stellen und eine Evaluierung zu akzeptieren. Eine Evaluierung der Probleme, aber auch dessen, was gut läuft.“
Savignac wünscht sich, wie viele andere Katholiken in Frankreich, eine stärkere Einbeziehung von Laien in kirchliche Entscheidungsprozesse. Ein Hashtag-Verband mit dem Titel „Aussi mon église“ (Auch meine Kirche) spricht sich für die Einsetzung einer gemeinsamen Kommission von Bischöfen, Priestern, Ordensleuten und Laien aus, um einen Weg aus der Krise zu finden. Fest steht: Die Bischöfe, die noch bis zum 8. November in Lourdes beraten, stehen vor schwierigen und wichtigen Entscheidungen.
(/vatican news)
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