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Ein Straßenverkäufer wartet in einem Außenbezirk von Damaskus auf Kundschaft Ein Straßenverkäufer wartet in einem Außenbezirk von Damaskus auf Kundschaft 

Zehn Jahre Syrienkrieg: „Verbrechen gegen Bevölkerung müssen geahndet werden“

Davon zeigt sich im Gespräch mit Radio Vatikan der Generalsekretär des Hilfswerkes CARE Deutschland, Karl-Otto Zentel, überzeugt. Die internationale Gemeinschaft müsse in dieser Hinsicht dringend ein deutliches Signal aussenden. Denn Gerechtigkeit sei für eine wirkliche Aussöhnung unabdingbar.

Radio Vatikan: Seit zehn Jahren tobt der Krieg in Syrien und der internationalen Gemeinschaft ist es trotz zahlreicher Appelle und Sanktionen nicht gelungen, einen Durchbruch für den Frieden zu erzielen. Was ist da los?

Karl-Otto Zentel (Generalsekretär CARE Deutschland): Ich denke, Syrien, aber auch andere lang andauernde Konflikte sind ein Zeichen dafür, dass uns bekannte internationale Lösungs-Mechanismen nicht mehr greifen. Die Welt hat sich anders aufgestellt, wir haben eine Vielzahl von Akteuren, die sich einbringen und vielleicht auch die Abwesenheit oder das mangelnde Interesse und die mangelnde Bereitschaft, auch konsequente Schritte zu tun, gemeinsam an Lösungen zu arbeiten. Dies gilt auch für die Europäische Union, die ja durchaus politisch und außenpolitisch eine andere Rolle spielen könnte, wenn ihre Mitgliedsländer sich darauf verständigen würden.

Hören Sie hier das Interview mit Karl-Otto Zentel von CARE Deutschland zu Syrien

Radio Vatikan: Was braucht es denn noch für eine nationale Versöhnung?

Karl-Otto Zentel: Ja, neben dem Versuch einer Lösung des Konfliktes, was dringend notwendig ist, muss von der internationalen Gemeinschaft ganz klar eine Botschaft ausgehen: Das, was dort geschehen ist, die Verbrechen, die in Syrien an der Zivilbevölkerung, an Männern, Frauen und Kindern, geschehen sind, werden nicht vergessen! Und auch wenn dieser Konflikt noch viele Jahre dauert, es wird einen Punkt geben, an dem sich Menschen für das, was sie getan haben, verantworten müssen. Das ist eine Botschaft, die ganz klar von allen Seiten gesendet werden muss. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit gegenüber den Opfern.

„Das ist eine Frage der Gerechtigkeit gegenüber den Opfern.“

Radio Vatikan: Ja, traurige zehn Jahre Krieg mittlerweile, steht in Syrien eigentlich noch ein Stein auf dem anderen? Wie ist die Situation der Menschen?

Karl-Otto Zentel: Wir haben natürlich weitgehende Zerstörung in diesem Land zu verzeichnen. Wir haben aber auch Gebiete, wie beispielsweise die Mittelmeerküste, die vom Krieg kaum betroffen wurden. Das muss man also ein bisschen differenziert sehen. Wir haben große Zerstörungen im Süden des Landes gehabt, im Osten, aber auch im Norden. Diese hatten dann massive Auswirkungen auf Gesundheitsversorgung, Ausbildungsmöglichkeiten, Einkommensmöglichkeiten, also generell auf die Lebensmöglichkeiten der Menschen, die dort leben und teilweise vor den kriegerischen Handlungen erst dorthin geflüchtet sind.

Radio Vatikan: Wenn wir davon ausgehen, dass man sich an die ersten Lebensjahre nicht oder nur kaum erinnert, müsste man ja sagen, Kinder bis ins Teenageralter kennen dort nur Krieg. Was macht das mit einer ganzen Generation von jungen Menschen?

Karl-Otto Zentel: Ja, das sind junge Menschen, die heranwachsen, Gewalt und Elend erleben, die keine Bildungsmöglichkeiten oder Zugang zu Bildung haben, die sehr stark auf ihr Überleben zurückgeworfen sind. Falls es gelingt, den Krieg zu beenden, wird es wohl eine Mammutaufgabe sein, diese jungen Menschen, wieder in eine Gesellschaft zu integrieren, ihnen das zu geben, was sie jetzt in all den Jahren nicht erleben konnten und sie in die Lage zu versetzen, das aufzuarbeiten, was sie erlebt haben, damit bewusst umgehen zu können, um daraus Lehren zu ziehen, die sie in eine positive Lebensrichtung drängen. Das klingt nach viel, und ich glaube es ist noch viel mehr, als man sagen kann, was da notwendig sein wird. Das wird sehr viele Jahre dauern, wenn wir überhaupt eine Chance haben.

„Falls es gelingt, den Krieg zu beenden, wird es wohl eine Mammutaufgabe sein, diese jungen Menschen, wieder in eine Gesellschaft zu integrieren“

Radio Vatikan: Ist Hilfe unter den derzeitigen Umständen überhaupt in dem Ausmaß möglich, wie es nötig wäre?

Karl-Otto Zentel: Diese Frage hat zwei Komponenten. Es geht ja zum einen auch um die nötigen Finanzmittel. Gestern erst wurde ja in einem Guardian-Artikel berichtet, dass die britische Regierung plant, ihre Hilfe für die Flüchtlinge in Syrien um 67% zu kürzen. Das ist eine Schande, wenn es denn so stattfindet - absolut nicht nachvollziehbar und inakzeptabel in dieser Situation. Das heißt, es geht zum einen rein um die finanziellen Mittel, die benötigt werden - und die sind gewaltig. Und zum anderen geht es um den Zugang. Und auch hier gibt es inzwischen starke Einschränkungen. Grenzübergänge, die per Resolution offen gehalten wurden, sind in Diskussion, Resolutionen des Sicherheitsrates müssen verlängert werden, und das ist immer ein langer Aushandlungsprozess. Es ist also alles andere als sicher, dass wir genug Möglichkeiten haben, überhaupt Hilfsgüter zu den bedürftigen Menschen in Syrien zu bringen. Es kann uns passieren, dass uns der Zugang abgeschnitten wird.

„Es kann uns passieren, dass uns der Zugang abgeschnitten wird.“

Radio Vatikan: Angenommen, heute Nachmittag wäre der Krieg vorbei - Wie lange würde ein Wiederaufbau dauern?

Karl-Otto Zentel: Der Aufbau der zerstörten Infrastruktur ist eine reine Geldfrage. Wir haben das schon gesehen in anderen Ländern, beziehungsweise nehmen wir das Beispiel des Zweiten Weltkrieges mit dem Marshallplan: da sah man, dass doch innerhalb weniger Jahre Erstaunliches geleistet werden kann. Aber das ist die rein physische Infrastruktur, die damit wieder aufgebaut wird! Was doch viel wichtiger ist, ist der Wiederaufbau der Gesellschaft, nämlich einer Gesellschaft, die zehn Jahre geprägt war durch Krieg, Unterdrückung, Folter, Tod und Not. Das ist eine Generationenaufgabe, die die Menschen in Syrien, auch wenn sie diese Chance bekommen, was ich ihnen sehr stark wünsche, über Generationen beschäftigen wird.

„Jeder einzelne von uns kann politisch versuchen, Einfluss zu nehmen“

Radio Vatikan: Wie kann die internationale Gemeinschaft, wie kann jeder einzelne von uns, an dieser tragischen Situation doch noch etwas ändern?

Karl-Otto Zentel: Jeder einzelne von uns kann politisch versuchen, Einfluss zu nehmen. Das kann auch heißen, auf seine Abgeordneten zuzugehen und ihnen zu sagen, ich finde es toll, was ihr hier alles macht, aber es gibt auch Syrien. Setzt euch dafür ein, dass sich die Bundesregierung und die Europäische Union hier stärker einbringen und versuchen, die Kriegsparteien zu einem vernünftigen Abschluss zu bewegen. Das ist ein langwieriger Weg, aber das eine Möglichkeit, die jedem einzelnen offen steht, auch wenn sie vielleicht nicht allzu viele Erfolgsaussichten hat. Die internationale Gemeinschaft, wir haben es viele Male gesagt, kann nur, indem man sich alle an einen Tisch setzt, Lösungen finden, die es allen Seiten ermöglichen, auch noch gesichtswahrend aus diesem Konflikt herauszukommen. Ich muss gestehen, ich kann es mir kaum vorstellen, dass das in der derzeitigen Situation möglich sein wird.

Eine vertriebene syrische Familie versucht, mit dem Sammeln von altem Metall - darunter auch nicht expolodierte Waffen - ein Auskommen zu finden
Eine vertriebene syrische Familie versucht, mit dem Sammeln von altem Metall - darunter auch nicht expolodierte Waffen - ein Auskommen zu finden

Radio Vatikan: Was tut denn CARE, um hier zu einer Lösung beizutragen?

Karl-Otto Zentel: CARE als humanitäre Hilfsorganisation konzentriert sich in erster Linie darauf, dass wir die Menschen in Syrien, die in Not sind, unterstützen können. Das geht mit Trinkwasserversorgung und medizinischer Versorgung, mit Nahrungsmittelversorgung, und, wo die Lage stabiler ist, auch mit der Möglichkeit von Einkommensschaffung. Das bedeutet, dass wir versuchen, gerade der Vielzahl der Frauen, die inzwischen alleine die Familien führen müssen, weil ihre Männer ums Leben kamen oder ihr Aufenthaltsort unbekannt ist, Einkommensmöglichkeiten zu geben und - wo möglich - Kindern auch Zugang zu Bildung zu schaffen. Unsere Prämisse ist, dass Hilfe wirklich nur am Bedarf der Betroffenen ausgerichtet sein muss.

Darüber hinaus sind wir in unseren Ländern, also CARE Deutschland vor allem in Deutschland beispielsweise, bemüht, mit unserer Öffentlichkeitsarbeit die Aufmerksamkeit der Politik und der Öffentlichkeit auf die Situation in Syrien zu richten. Die Menschen dort dürfen nicht vergessen werden. Denn nur wenn wir uns darüber bewusst sind, in welcher Situation und in welcher Not sie leben, werden wir auch die nötige Energie gewinnen können, um auf der politischen Ebene Lösungswege zu suchen und anzugehen.

Die Fragen stellte Christine Seuss

 

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12. März 2021, 15:24