Hollerich: „Moralischer Zeigefinger bringt uns nicht weiter“
Stefan von Kempis – Vatikanstadt
In dem Brief ermuntert Franziskus, der auch Träger des Aachener Karlspreises ist, die Europäische Union zu mehr Solidarität. Europa solle nicht seiner vergangenen Führungsrolle nachtrauern, sondern weiter Herold des von ihm entwickelten Menschenbildes sein.
„Es gibt viele mahnende und warnende Worte an Europa“, so Hollerich, der auch Erzbischof von Luxemburg ist, am Dienstagabend im Radio-Vatikan-Interview. „Es gibt manchmal den moralischen Zeigefinger – und ich kann das auch alles verstehen. Aber das bringt uns nicht weiter!“
Franziskus appelliere in seinem Brief an „das Gute in jedem Menschen“ sowie an den Idealismus „in jedem europäischen Bürger und Entscheidungsträger“. Der Kardinal wörtlich: „Diese Art, das Ganze zu präsentieren, öffnet einen Raum und eine Zukunft. Und das finde ich wunderbar!“
Hier und da kommt das Schreiben aus dem Vatikan natürlich nicht ohne den mahnenden Zeigefinger aus: Der Papst fordert Aufnahmebereitschaft und Hilfe für Migranten ein, warnt angesichts der Corona-Pandemie vor nationalen Alleingängen und einem Rückbau des europäischen Einigungsprojekts.
Das kleine Luxemburger Fallbeispiel
Doch finden sich durchaus auch Töne, die für einen Papst ungewöhnlich sind. Etwa, wenn Franziskus von einem „gesund säkularen Europa“ träumt und proklamiert: „Die Zeit des Konfessionalismus ist vorbei.“ Kardinal Hollerich findet, dass der Papst recht hat:
„Ich sehe das ja auch in meinem kleinen Luxemburger Fallbeispiel: Wir haben eine Trennung von Kirche und Staat. Das sind immer Punkte, die wehtun, auch finanziell. Aber das öffnet neue Chancen: Wir können Gott ganz Gott sein lassen! Diese Freiheit der Kirche in einem säkularen Raum – die Freiheit des Glaubens, die Freiheit der Religion, die Freiheit des Zusammenwirkens mit Leuten anderen Glaubens und anderer Meinung – eröffnet ganz neue Horizonte und Zukunftsmöglichkeiten.“
Abgrenzung gegen zwei Extreme
Allerdings trete Franziskus natürlich auch nicht für ein Europa des „fanatischen Laizismus“ ein, der die Religion auf die Privatsphäre beschränke. Der Papst grenze sich deutlich „gegen die beiden Seiten“ ab: Er wolle weder „ein Europa, das die Religion ausschließen und sich ausschließlich religionslos definieren möchte“, weil ein solches Europa „den Leuten die Transzendenz wegnimmt“, so Kardinal Hollerich. Und Franziskus wolle auch keine Religion, „die der Politik vorschreibt, was sie zu tun hat“.
„Nicht nur, dass diese Zeiten vorbei sind – das entspricht auch überhaupt nicht der katholischen Soziallehre! Das hat die Kirche nicht gelehrt!“
Franziskus‘ Denken in diesem Bereich steht für Kardinal Hollerich nicht im Widerspruch zum Stichwort „Entweltlichung“, das Benedikt XVI. (2005-20013) in einer genannt hatte, so Kardinal Hollerich.
„Der Papst hat hier den mittleren Weg gefunden, der in der Realität verwurzelt ist. Denn Gott kann man immer nur im Reellen finden. Und wenn der Papst von Träumen spricht (was ich wunderbar finde), dann sind das Träume, die aus der Realität erwachsen und die die Realität verändern können, keine Hirngespinste.“
Virtuelle Vollversammlung
Die trifft sich in diesen Tagen zu ihrer Herbst-Vollversammlung in Brüssel – allerdings wegen der Corona-Pandemie großteils virtuell. Per Computer aus dem Vatikan nimmt auch Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin daran teil. Vor Beginn der Beratungen haben sich einige Comece-Vertreter mit der deutschen Ratspräsidentschaft der EU ausgetauscht.
(vatican news)
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