Frankreich: Der Bischof und die gelben Westen
Christina Höfferer - Vatikanstadt
Doch eigentlich geht ja in einer parlamentarischen Demokratie ohnehin alle Macht vom Volke aus, betont der Bischof von Le Havre, Jean-Luc Brunin. Und er analysiert in unserem Interview die soziale Krise in Frankreich.
Jean-Luc Brunin: Ich glaube, dass die Verantwortung der Politik deutlich herausgestellt werden muss. Die repräsentative Demokratie muss nach vorne gestellt werden, aber eben auch die partizipative Demokratie. Ich glaube, dass heute die Politiker einfach nicht handeln dürfen ohne Anbindung an die partizipative Demokratie. Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Einzelinteressen fragmentiert sind. Daher gilt es, dass diese Einzelinteressen in eine globale Sichtweise eingeordnet werden müssen. Es geht ja um das Gemeinwohl.
Vatikan News: Sie sprechen von einer Fragmentierung der Gesellschaft. Das sehen wir ja auch daran, wie die Proteste organisiert sind:Es gibt keine Organisatoren. Es gibt lediglich Facebook-Gruppen, über die die Proteste organisiert werden. Ist das ein Zeichen dafür, dass heute das Allgemeinwohl zugunsten des Individualismus zurückgedrängt worden ist?
Jean-Luc Brunin: Wir leben in einer Gesellschaft, wo viel zu viele Menschen ihrer Arbeit beraubt sind oder in prekären Lebensverhältnissen leben. In Frankreich gibt es neun Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze! Hier muss Solidarität in der Gesellschaft geschaffen werden.
Vatikan News: Was denken Sie über diese Entfremdung zwischen der Macht und dem Volk?
Jean-Luc Brunin: Tatsächlich gibt es einen Vertrauensverlust von seiten der Bürger gegen über den politisch Verantwortlichen. Wahrscheinlich liegt das daran, dass die politisch Verantwortlichen einfach zu abgehoben sind von der Mehrheit der Bürger. Jetzt ist eines ganz klar zu sehen, jetzt wo die Bürger auf die Straße gehen: Die Politik hat große Schwierigkeiten, den Sinn für das Gemeinwohl zu vermitteln, jetzt wo sie mit Bürgern konfrontiert ist, die ihre Interessen ganz kategorisch einfordern.
Ich glaube, hier findet gerade ein gegenseitiger Prozess des Umdenkens statt. Die Politiker denken wieder daran, diese partizipative Demokratie zu beleben, Orte für Begegnung zu öffnen. Gleichzeitig kommt man auf der Seite der Bürgerinnen und Bürger zu der Einstellung, sich im Dienste der eigenen Interessen gegenüber dem Gemeinwohl zu öffnen. Ich glaube, durch diesen beiderseitigen Prozess kann das Vertrauen wieder gefunden werden.
(vatican news)
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