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Verloren auf dem Mittelmeer Verloren auf dem Mittelmeer 

Fall Aquarius verweist auf fehlende solidarische EU-Asylpolitik

Das Debakel um das Flüchtlingsschiff Aquarius ist nicht nur Auftakt einer Kehrtwende in Italiens Immigrationspolitik. Der Fall ist auch Symptom einer EU, die es bis heute nicht schafft, ein europäisches Asylsystem nach dem Prinzip der Lastenteilung aufzubauen. Das sagt Christopher Hein vom Italienischen Flüchtlingsrat (CIR) im Interview mit Pope. Hein ist auch als Dozent für Asyl- und Immigrationsfragen an der römischen Privat-Uni LUISS tätig.

Pope: Italien wollte sie nicht, Malta wollte sie nicht, schließlich können sie in Spanien an Land gehen – die über 600 Mittelmeerflüchtlinge vom Schiff Aquarius. Was sagt Ihnen dieser Fall zur aktuellen Flüchtlingspolitik der EU?


Hein: Diese Flüchtlingspolitik ist in Italien und der EU derzeit nicht unbedingt dieselbe… Die neue italienische Regierung hat klar gemacht, dass sie eine Veränderung in der Flüchtlings- und Migrationspolitik einschlagen will, und der Fall Aquarius ist nur das erste konkrete Zeichen dafür. Eigentlich kann von einer europäischen Immigrations- und Asylpolitik derzeit gerade keine Rede sein, es gibt keine europäische Antwort. Und das ist auch einer der Gründe des Problems und des Leidens der Menschen an Bord dieses Schiffes und auch anderer Schiffe.

Christopher Hein (CIR) im Gespräch mit Anne Preckel

Menschen gezwungen, sich auf diese Boote zu begeben

 

Es gibt auf der einen Seite keine wirkliche Möglichkeit, legal als Flüchtling oder als Asylbewerber in die EU einzureisen, d.h. die Menschen sind gezwungen, sich auf diese Boote zu begeben und die Schlepper zu bezahlen und ihr Leben dabei zu riskieren, mit allen Konsequenzen. Und auf der anderen Seite gibt es auch keine klare europäische Regelung über die Verantwortung für die Menschen, die ankommen.

 

Es fehlt eine solidarische Antwort der EU

 

Insofern hat Italien Recht, zu sagen: Warum sollen nur wir immer unsere Häfen aufmachen für Menschen, die gerettet werden? Nur weil wir diese geografische Lage gegenüber von Nordafrika haben? Das ist keine rein italienische Angelegenheit, und es fehlt eine solidarische Antwort Europas, wie sie auch im Lissabonner Vertrag gewünscht ist. Mit Blick auf Italien muss man allerdings auch sagen: Es ist sehr widersprüchlich, wenn die italienische Regierung auf der einen Seite die europäische Solidarität einfordert, auf der anderen Seite aber gemeinsame politische Sache macht mit den Regierungen von Ungarn oder Polen, die genau die andere Richtung, nämlich eine anti-europäische Richtung, einschlagen wollen...

Pope: Wenn Italien Flüchtlinge fortan tatsächlich regelmäßig abstößt, wie im Fall Aquarius geschehen, welchen Effekt wird das auf andere EU-Staaten und die europäische Asylpolitik haben?

 

Schwarzer Peter von einem zum nächsten 

 

Hein: Wir haben in der jüngsten Geschichte immer gesehen: Wenn ein Land die Türen zumachte, dann werden sich notwendigerweise die Flüchtlinge und Migranten andere Wege suchen, noch gefährlichere und noch weitere Wege. Und das bedeutet, dass Länder wie etwa Spanien auch stärker betroffen sein werden. Jetzt hat Spanien diese wichtige Geste gemacht, die Migranten von dem Aquarius-Schiff aufzunehmen. Wir haben aber auch gesehen, dass in den letzten 12 Monaten die Zahl derer, die über das Meer nach Spanien gekommen sind, angestiegen ist. Das ist klar: Wenn es keine europäische Lösung gibt und jedes Land seine eigene Politik macht, dann bedeutet das, dass der schwarze Peter von einem zum nächsten geschoben wird.

Pope: Bis Ende Juni wollten sich die EU-Mitgliedsstaaten doch eigentlich einigen, wie fortan mit Asylsuchenden in der EU umgegangen werden soll und wo sie Asyl beantragen dürfen. Derzeit geht das ja zunächst nur in dem Land, das sie als erstes betreten. Wenn man sich den derzeitigen Streit der EU-Länder in Asylfragen ansieht – wie wahrscheinlich ist es da, dass es tatsächlich bald mal einen Durchbruch bei der Reform der jetzigen Regeln, des Dublin-Verfahrens, geben wird?

 

Hein glaubt nicht an Durchbruch bei Dublin

 

Hein: Ich halte das für außerordentlich unwahrscheinlich. In der letzten Woche gab es eine Konferenz der Innen- und Justizminister in Brüssel genau zu der Frage der Reform des Dublin-Systems. Da ist keine Einigung erzielt worden. Es ist ja bekannt, dass einige Länder im östlichen Teil des Kontinents, Ungarn, Tschechische Republik, Polen und Slowakei, sowieso jede auch nur Andeutung der Übernahme von Asylbewerbern aus anderen Ländern total ablehnen und damit auch die Vorschläge der Kommission zu einer Umverteilung von Flüchtlingen aus den Erstaufnahme-Ländern praktisch gescheitert ist. Ich glaube nicht, dass es in einer Woche da einen Durchbruch geben wird.

Pope: Wenn wir uns die Bootsflüchtlinge ansehen - die Mittelmeeranrainer Italien, Griechenland haben bisher eine Lastenteilung bei der Aufnahme dieser Menschen gefordert, die osteuropäischen Länder sind strikt gegen so einen Ansatz. Was die Kriegsflüchtlinge aus Syrien betrifft, also Menschen mit internationalem Schutzstatus, gab es aber bis September 2017 ein solches Umverteilungs-Programm – warum hat man daran nicht festgehalten?

 

Den Asylantrag „in Europa“ stellen 

 

Hein: Das Umverteilungsprogramm, das 2015 während der großen Flüchtlingskrise aufgesetzt wurde, hat ja nur sehr mager funktioniert. Aus Italien sind innerhalb von zwei Jahren nicht einmal 12.000 Asylbewerber umgesiedelt worden, wohingegen im gleichen Zeitraum etwa 250.000 Asylbewerber angekommen sind. Das heißt, es hat keinen wirklichen Einfluss gehabt auf die Lage. Aus verschiedenen Gründen hat dieses System der Umsiedlung nicht funktioniert, und es wird auch jetzt noch weniger funktionieren, seitdem eine Reihe von Regierungen schon gesagt haben, dass sie absolut nicht daran denken werden, an einem solchen Programm teilzunehmen.

Pope: Dabei ließe sich der Ansatz doch weiterdenken in Richtung eines europäischen Asylsystem...

Hein: Das ist genau das, was vom Europäischen Parlament im letzten Oktober mit großer Mehrheit beschlossen wurde: ein Vorschlag zur Dublin-Reform. Der darin besteht, dass, wenn ein Asylbewerber ankommt irgendwo in Europa, er seinen Asylantrag nicht so sehr an Deutschland, die Schweiz oder Italien stellt, sondern an die Europäische Union und dass es dann Mechanismen gibt, wonach das dann von den jeweiligen Zuständigkeiten geregelt wird. Das ist ein sehr weit gehender, europäischer Solidarvorschlag, der aber gegenwärtig von keiner einzigen Regierung wirklich unterstützt wird!

 

Solidargemeinschaft? Der Wind steht derzeit ganz anders...

 

Pope: Unterm Strich also ein negatives Fazit: eine Reform des Dublin-Systems wird blockiert von verschiedenen Seiten. Würden Sie sagen, der Vorschlag lässt sich langfristig vergessen?

Hein: Nein, das darf man auf keinen Fall vergessen. Europa muss da auf die eine oder andere Weise weitergehen. Im Augenblick ist der politische Wind aber außerordentlich ungünstig, das muss man feststellen. Aber das bedeutet nicht, dass damit die Probleme gelöst werden wenn jeder nur auf seine nationalstaatlichen Interessen und Eigenheiten zurückgeht und wenn man die EU als Solidargemeinschaft auf dem europäischen Kontinent außeracht lässt. Das ist eine schwierige Zeit, durch die man aber durch muss.

 

Stimme der Kirche wichtig, finde aber kaum Gehör

 

Pope: Die katholische Kirche stellt sich in der Debatte im Allgemeinen auf Seite der Schutzsuchenden und plädiert für mehr Aufnahmebereitschaft und Menschlichkeit auf Seiten der Europäer. Wie bewerten Sie diese Statements der Kirche zum Thema? 

Hein: Also wir haben gesehen, dass vom Papst selbst und - gerade auch in diesen Tagen - von einer Reihe von Kardinälen ganz klare Erklärungen gemacht wurden, auch in Bezug auf die Schließung der Häfen gegenüber dem Aquarius-Schiff. Die Kirche ist sicher eine ganz wichtige Stimme, aber ich bin skeptisch, dass diese Stimme im gegenwärtigen politischen Zusammenhang politisches Gehör finden wird... (...)

Pope: Auf der einen Seite erstarken Bewegungen in Europa, die Einwanderung gegenüber überwiegend negativ eingestellt sind – jüngstes Beispiel. Italien. Auf der anderen Seite nimmt man diese Unfähigkeit der Staatengemeinschaft wahr, ein gemeinsamen Vorgehen bei der Lebensrettung, Asylpolitik und Grenzsicherung zu finden. Welchen Zusammenhang sehen Sie da?

 

EU-Zivilgesellschaft in den letzten Jahren allzu blauäugig

 

Hein: Wir sehen in allen Ländern, dass dieselben Parteien oder Bewegungen, die sich europaskeptisch oder sogar antieuropäisch ausdrücken, gleichzeitig die Parteien und Bewegungen sind, die ausländerfeindlich sind, die keine Flüchtlinge in Europa aufnehmen wollen. Das geht in allen Fällen zusammen, das kann man in Frankreich sehen, in Polen, hier in Italien und auch in den skandinavischen Ländern. Das heißt, es gibt offenbar eine Übereinstimmung dieser beiden Politikvorstellungen: zurück auf den Nationalstaat und die nationalen Interessen auf der einen Seite - und gleichzeitig die Schotten dicht zu machen gegenüber Flüchtlingen.

Pope: Dieser voranschreitende Abschluss gegenüber Europa und nach außen - um dem entgegenzuwirken, bräuchte die Gegenseite da vielleicht nicht griffigere Argumente, müsste sie nicht überzeugender sein, wenn es darum geht, für ein solidarisches und offenes Europa einzutreten? 

Hein: Die Zivilgesellschaft in Europa und auch die flüchtlingsfreundlichen Bewegungen und Parteien sind in den letzten Jahren eher blauäugig vorgegangen und haben keine wirklichen alternativen Modelle vorgeschlagen, die auch eine breitere Akzeptanz in der Bevölkerung finden können. Ich bin nicht der Meinung, dass wir zurückgehen sollten zum Zustand, wo wir in jedem Jahr Tausende von Toten im Mittelmeer haben, ohne zu sagen, was der Grund dafür ist: nämlich dass die Grenzen Europas zugemacht wurden in Bezug auf legale Einreisemöglichkeiten!

Die Fragen stellte Anne Preckel

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13. Juni 2018, 14:13