Wortlaut: Große Polit-Rede des Papstes in Ost-Timor
Auslassungen werden durch (…) markiert. Der spanische Landesname Timor-Leste wurde im Text durch das im Deutschen gängige Ost-Timor ersetzt. Sämtliche Wortmeldungen des Papstes in ihrer offiziellen Fassung werden auf der
Begegnung mit den Autoritäten, der Zivilgesellschaft
und dem Diplomatischen Korps
Dili, Präsidentenpalast, 9. September
Herr Präsident,
Herr Premierminister,
sehr verehrte Mitglieder der Regierung und des Diplomatischen Korps,
Herr Kardinal, meine Herren Bischöfe,
Vertreter der Zivilgesellschaft,
meine Damen und Herren!
Ich danke Ihnen für Ihren höflichen und freudigen Empfang in diesem schönen Land Ost-Timor. Und ich danke dem Präsidenten, Herrn José Ramos-Horta, und dem Premierminister, Herrn Xanana Gusmão, für die freundlichen Worte, die Sie gerade an mich gerichtet haben.
Hier berühren sich Asien und Ozeanien und begegnen in gewissem Sinne Europa, das zwar geografisch weit entfernt ist, aber doch nahe aufgrund der Rolle, die es in diesen Breiten in den letzten fünf Jahrhunderten gespielt hat. Von den holländischen Piraten will ich gar nicht erst reden. Aus Portugal kamen nämlich im 16. Jahrhundert die ersten Dominikaner-Missionare, die den Katholizismus und die portugiesische Sprache mitbrachten; diese und die Sprache Tetum sind heute die beiden offiziellen Sprachen des Staates.
Das Christentum, das in Asien entstand, ist durch europäische Missionare bis in diese entferntesten Ausläufer des Kontinents vorgedrungen und zeugt so von seiner universalen Berufung und seiner Fähigkeit, sich mit den unterschiedlichsten Kulturen in Einklang zu bringen, die durch die Begegnung mit dem Evangelium zu einer neuen, höheren und tiefgründigeren Synthese finden. Das Christentum inkulturiert sich, (…) und zugleich evangelisiert es die Kulturen. Dieser Gleichklang für das christliche Leben ist wichtig: Inkulturation des Glaubens und Evangelisierung der Kultur. Es handelt sich nicht um einen ideologischen Glauben, sondern um einen in der Kultur verwurzelten Glauben.
Dieses Land, geziert von Bergen, Wäldern und Ebenen, umgeben von einem nach allem, was ich sehen konnte, wunderbaren Meer, reich an so vielen Dingen, an Früchten und Holz... Dieses Land hat die Erschütterungen und die Gewalt erlebt, die oft auftreten, wenn ein Volk vor der vollen Unabhängigkeit steht und sein Streben nach Selbständigkeit nicht anerkannt oder behindert wird.
Vom 28. November 1975 bis zum 20. Mai 2002, also von der Erklärung der Unabhängigkeit bis zu ihrer endgültigen Wiederherstellung, erlebte Ost-Timor die Jahre seines Leidens und seiner größten Prüfung. Es hat gelitten. Doch das Land wusste sich wieder zu erheben, indem es einen Weg des Friedens und der Öffnung für eine neue Phase fand, die eine Phase der Entwicklung sein will, der Verbesserung der Lebensbedingungen, und in der die unberührte Pracht dieses Gebiets und seine natürlichen und menschlichen Ressourcen auf allen Ebenen zur Geltung gebracht werden sollen.
Danken wir Gott dafür, dass Sie während einer so dramatischen Zeit Ihrer Geschichte die Hoffnung nicht verloren haben und dafür, dass nach dunklen und schwierigen Tagen endlich eine Morgendämmerung des Friedens und der Freiheit angebrochen ist.
Bei der Verfolgung dieser wichtigen Ziele war die Verwurzelung im katholischen Glauben eine große Hilfe, wie der heilige Johannes Paul II. bei seinem Besuch in Ihrem Land im Jahr 1989 betonte. In seiner Homilie in Tasi-Tolu erinnerte er daran, dass die Katholiken von Ost-Timor »eine Tradition haben, in der das Familienleben, die Kultur und die Bräuche der Gesellschaft tief im Evangelium verwurzelt sind«; eine Tradition »reich an den Lehren und am Geist der Seligpreisungen«, eine Tradition reich an »demütigem Gottvertrauen, an Vergebung und Barmherzigkeit und, wenn notwendig, an geduldigem Leiden in der Bedrängnis« (12. Oktober 1989). (…)
In diesem Zusammenhang möchte ich besonders an Ihr unermüdliches Bemühen um eine Versöhnung mit Ihren Brüdern und Schwestern in Indonesien lobend erinnern. Die erste und klarste Quelle dieser Haltung sind die Lehren des Evangeliums. Sie haben auch in der Bedrängnis an der Hoffnung festgehalten und dank des Charakters Ihres Volkes und Ihres Glaubens haben Sie den Schmerz in Freude verwandelt! Der Himmel gebe, dass sich auch in anderen Konfliktsituationen in verschiedenen Teilen der Welt der Wunsch nach Frieden durchsetzt! Denn die Einheit ist wichtiger als der Konflikt, immer. (…) Und dazu braucht es auch eine gewisse Reinigung des Gedächtnisses, um Wunden zu heilen, den Hass durch Versöhnung zu bekämpfen, die Konfrontation durch die Zusammenarbeit. (…)
Es ist auch ein Grund zu Lob und Dank, dass Sie am 20. Jahrestag der Unabhängigkeit des Landes die Erklärung zur Brüderlichkeit aller Menschen, die ich zusammen mit dem Großimam von Al-Azhar am 4. Februar 2019 in Abu Dhabi unterzeichnet habe, unter die nationalen Dokumente aufgenommen haben. (…) Und Sie haben dies getan, damit sie – wie es die Erklärung selbst wünscht – in die Lehrpläne aufgenommen und integriert werden kann. Dies ist grundlegend.
Zugleich ermutige ich Sie, in erneutem Vertrauen mit dem umsichtigen Aufbau und der Konsolidierung der Institutionen Ihrer Republik fortzufahren, so dass diese Einrichtungen geeignet sind, dem Volk von Ost-Timor zu dienen und die Bürger sich tatsächlich repräsentiert fühlen.
Jetzt hat sich ein neuer Horizont vor Ihnen aufgetan, frei von düsteren Wolken, aber mit neuen Herausforderungen, die es anzugehen und mit neuen Problemen, die es zu lösen gilt. Deshalb möchte ich Ihnen sagen: Der Glaube, der Sie in der Vergangenheit erleuchtet und ihnen Halt gegeben hat, möge auch weiterhin Ihre Gegenwart und Ihre Zukunft inspirieren: »Que a vossa fé seja a vossa cultura!«, das heißt, er möge die Kriterien, die Projekte und die Entscheidungen im Sinne des Evangeliums inspirieren.
Ich denke bei den vielen aktuellen Themen an das Phänomen der Auswanderung, das immer ein Anzeichen für eine unzureichende oder unangemessene Erschließung der Ressourcen ist, wie auch dafür, dass man nicht in der Lage ist, allen einen Arbeitsplatz anzubieten, der einen gerechten Ertrag bringt und den Familien ein Einkommen sichert, das ihren Grundbedürfnissen entspricht. (…)
Ich denke auch an die Armut, die es in vielen ländlichen Gebieten gibt, und an die daraus folgende Notwendigkeit eines langfristig angelegten gemeinsamen Vorgehens, das vielfältige Kräfte und unterschiedliche Verantwortlichkeiten – zivile, religiöse und soziale – einbezieht, um Abhilfe zu schaffen und wirksame Alternativen zur Auswanderung zu bieten.
Ich denke schließlich an das, was man als gesellschaftliche Plagen bezeichnen könnte, wie beispielsweise den übermäßigen Alkoholkonsum unter Jugendlichen. Bitte gehen Sie das an! Geben Sie den jungen Leuten Ideale, damit sie aus diesen Fallen herausfinden! Ein weiteres Phänomen ist das der Banden, die (…) gewalttätig werden. Gewalt ist immer ein Problem bei den Völkern. Und vergessen wir nicht die vielen Kinder und Heranwachsenden, die in ihrer Würde verletzt werden (…): wir alle sind gerufen, verantwortungsvoll zu handeln, um jeder Art von Missbrauch vorzubeugen und zu gewährleisten, dass unsere Kinder und Jugendlichen unbeschwert heranwachsen können.
Für die Lösung dieser Probleme wie auch für die optimale Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen des Landes – vor allem der Öl- und Gasreserven, die nie dagewesene Entwicklungsmöglichkeiten bieten könnten – ist es unerlässlich, diejenigen, die in nicht allzu ferner Zukunft die Führungsriege des Landes bilden werden, durch eine entsprechende Ausbildung angemessen vorzubereiten. (…) Auf diese Weise wären sie dann in der Lage, über alle notwendigen Mittel zu verfügen, um weitreichende Pläne im ausschließlichen Interesse des Gemeinwohls zu entwerfen.
Die Kirche bietet ihre Soziallehre als Basis für einen solchen Bildungsprozess an. Diese stellt einen unverzichtbaren Grundpfeiler dar, auf dessen Basis man spezifische Kenntnisse entwickeln kann und auf den man sich stets stützen muss, um zu überprüfen, ob jene neuen Errungenschaften wirklich der ganzheitlichen Entwicklung zugutegekommen sind oder ob sie sich stattdessen als Hindernis erweisen, weil sie zu unannehmbaren Ungleichgewichten und einem erhöhten Anteil an Ausgestoßenen führen, die am Rand zurückgelassen werden. Die Soziallehre der Kirche ist keine Ideologie, sie gründet auf der Geschwisterlichkeit. Eine Lehre, die es zu fördern gilt, tut viel für die Entwicklung der Völker, vor allem der Ärmsten.
Doch auch wenn es an Problemen nicht mangelt – wie bei allen Völkern und zu allen Zeiten – möchte ich Sie einladen, zuversichtlich zu sein und einen hoffnungsvollen Blick in die Zukunft zu bewahren. (…)
Sie sind ein junges Volk, nicht bezüglich Ihrer Kultur und der Besiedlung dieses Landes, die sehr alt sind, sondern weil etwa 65% der Bevölkerung von Ost-Timor unter 30 Jahre alt ist. (…) Diese Zahl sagt uns, dass der erste Bereich, in den investiert werden muss, die Bildung ist. (…) Eine Bildung, die Kinder und Jugendliche in den Mittelpunkt stellt und ihre Würde stärkt. (…) Der Enthusiasmus, die Frische, die Zukunftsorientierung, der Mut und die Unternehmungslust, die für die Jugend typisch sind, bilden zusammen mit der Erfahrung und der Weisheit der Älteren eine günstige Mischung aus Wissen und weitherzigem Tatendrang auf dem Weg in die Zukunft. (…) Zusammen sind diese jugendliche Begeisterung und diese Weisheit eine große Ressource und erlauben keine Passivität und schon gar keinen Pessimismus. (…)
Die katholische Kirche, ihre Soziallehre, ihre sozialen und caritativen Einrichtungen wie auch ihre Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen stehen im Dienste aller und sind ebenfalls eine wertvolle Ressource, die es ermöglicht, hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken. In dieser Hinsicht ist es anerkennenswert, dass das Engagement der Kirche für das Gemeinwohl auf die Zusammenarbeit und Unterstützung des Staates zählen kann, im Rahmen der freundschaftlichen Beziehungen, die sich zwischen der Kirche und der Demokratischen Republik Ost-Timor entwickelt haben und die von dem am 3. März 2016 in Kraft getretenen Abkommen beider rezipiert werden. Exzellente Beziehungen.
Ost-Timor, das Zeiten großer Bedrängnis mit geduldiger Entschlossenheit und Heldenmut zu meistern vermochte, lebt heute als friedliches und demokratisches Land, das sich um den Aufbau einer geschwisterlichen Gesellschaft müht und friedliche Beziehungen zu seinen Nachbarn innerhalb der internationalen Gemeinschaft entwickelt. Schaut man auf Ihre jüngste Vergangenheit und das bisher Erreichte, gibt es Grund zu der Zuversicht, dass Ihre Nation ebenso in der Lage sein wird, die heutigen Schwierigkeiten und Probleme verständig, klar kreativ anzugehen. Vertrauen Sie auf die Weisheit des Volkes! Ein Volk hat seine Weisheit – vertrauen Sie auf diese Weisheit.
Ich vertraue Ost-Timor und sein ganzes Volk dem Schutz der unbefleckt empfangenen Jungfrau und Gottesmutter Maria an, der himmlischen Patronin, die mit dem Titel Virgem de Aitara angerufen wird. Sie begleite Sie und helfe Ihnen stets bei der Aufgabe, ein freies, demokratisches und solidarisches und fröhliches Land aufzubauen, in dem sich niemand ausgeschlossen fühlt und alle in Frieden und Würde leben können.
Deus abençoe Timor-Leste! Maromak haraik bênção ba Timor-Lorosa’e!
(vatican news – sk)
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