Unvergesslich: Buch erinnert an Sturmgebet von Rom
Stefan von Kempis – Vatikanstadt
Blaulicht von den Polizeiwagen, die das Ausgangsverbot überwachen. Und Papst Franziskus, der vor einem alten Pestkreuz betet und einen Urbi-et-Orbi-Sondersegen erteilt, allein auf den Stufen von St. Peter. Hinter ihm: die offenen Bronzetore des Domes.
Genau ein Jahr ist das an diesem Samstag her. Mitten im ersten, harten Corona-Lockdown vom März 2020 betete der Papst für alle von der Pandemie Betroffenen, für die Sterbenden, für die Isolierten. Die Monstranz in Händen, zeichnete er ein Kreuz über Rom, das in diesen Tagen eine Geisterstadt war.
Was zählt wirklich?
In seiner Predigt rief Franziskus alle, die das Sturmgebet über Radio, TV oder Internet mitverfolgten, dazu auf, in dieser ernsten Stunde neu über die Prioritäten in ihrem Leben nachzudenken. Jeder solle sich jetzt klar darüber werden, „was wirklich zählt und was vergänglich ist“. Es sei „Zeit, den Kurs des Lebens wieder neu auf dich, Herr, und auf die Mitmenschen auszurichten“.
Das urplötzliche Hereinbrechen der Viruskrise habe ans Licht gebracht, dass die Menschheit den Kompass verloren hatte. „Wir haben vor deinen Mahnrufen nicht angehalten, wir haben uns von Kriegen und weltweiter Ungerechtigkeit nicht aufrütteln lassen, wir haben nicht auf den Schrei der Armen und unseres schwer kranken Planeten gehört. Wir haben unerschrocken weitergemacht in der Meinung, dass wir in einer kranken Welt immer gesund bleiben würden. Jetzt, auf dem stürmischen Meer, bitten wir dich: Wach auf, Herr!“
Das war ein Zitat aus dem Evangelium dieses Abends (Mk 4, 35-41): Die Jünger in Seenot, Jesus schlafend im Boot, ihr verzweifelter Weckruf.
Verstehen, dass niemand sich allein rettet
Mit ernstem Gesicht mahnte Franziskus zu neuer Geschwisterlichkeit. Mancher Akkord, den er an diesem Regenabend anschlug, sollte später noch kräftiger tönen. Der Papst warb für „neue Formen der Gastfreundschaft, Geschwisterlichkeit und Solidarität“. Und er würdigte jene, die sich für eine Überwindung der Krise einsetzten. Nicht nur Ärzte und Krankenschwestern, sondern auch Supermarktangestellte, Reinigungspersonal, Transporteure, Geistliche. Es seien viele, „die verstanden haben, dass niemand sich allein rettet“.
„Liebe Brüder und Schwestern, von diesem Ort aus, der vom felsenfesten Glauben Petri erzählt, möchte ich heute Abend euch alle dem Herrn anvertrauen und die Muttergottes um ihre Fürsprache bitten, die das Heil des Volkes Gottes und der Meerstern auf stürmischer See ist. Von diesen Kolonnaden aus, die Rom und die Welt umarmen, komme der Segen Gottes wie eine tröstende Umarmung auf euch herab. Herr, segne die Welt, schenke Gesundheit den Körpern und den Herzen Trost. Du möchtest, dass wir keine Angst haben; doch unser Glaube ist schwach und wir fürchten uns. Du aber, Herr, überlass uns nicht den Stürmen. Sag zu uns noch einmal: ‚Fürchtet euch nicht‘ (Mt 28,5). Und wir werfen zusammen mit Petrus ‚alle unsere Sorge auf dich, denn du kümmerst dich um uns‘ (vgl. 1 Petr 5,7).“
Eindringlich, aber nicht panisch
Zum Gebet des Papstes waren zwei altehrwürdige Ikonen aus dem religiösen Leben Roms auf den Petersplatz gebracht worden: das Marienbildnis Salus Populi Romani („Heil des römischen Volkes“) aus der Basilika Maria Maggiore sowie das Pest-Kruzifix aus der Innenstadtkirche San Marcello. Vor beiden betete der Papst; dann folgten eine eucharistische Anbetung und der Segen. Die Stimmung: ernst, konzentriert. Eindringlich, aber nicht panisch. Franziskus zeigte, dass in einem Augenblick der Not alte Riten ganz neu und anders wirken, dass sie echten Trost stiften können.
Buch aus Vatikanverlag erinnert an Franziskus' Gebet
Jetzt, ein Jahr später, kann man den ungewöhnlichen Gebetsmoment von der Piazza San Pietro noch einmal nachvollziehen – in einem Buch, das der Vatikanverlag LEV in diesen Tagen auch auf Deutsch herausgibt. „Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben?“ Diese Frage Jesu an seine verstörten Jünger aus der oben erwähnten Boots-Szene bildet den Titel des Bandes, den man wohl bald schon über unsere Internetseite bestellen kann.
Die Texte und die (meisterlichen) Fotos beschwören den Ernst der damaligen Lage herauf, als sich im norditalienischen Bergamo die Särge der Corona-Verstorbenen stapelten. Und sie passen auch in unsere Zeit, denn die Viruskrise ist ja noch längst nicht vorbei.
Der portugiesische Kardinal José Tolentino de Mendonca arbeitet in einem Vorwort die Kraft der Bilder vom Segensgebet des Papstes heraus. Ausgerechnet in einer Epoche der Banalisierung des Bildes und der Selfies habe Franziskus mit seinem Sondersegen ein Bild „von ikonischer Kraft“ hervorgebracht. Das müsse „außer- und innerhalb der Kirche zu denken geben“.
Der Papst habe den Mut gehabt, „die Schwäche als Ort menschlicher und glaubender Erfahrung zu markieren“ und „der Leere einen Sinn zu geben“. Das habe es erlaubt, der Pandemie anders entgegenzutreten. Hätten Staats- und Regierungschefs den Einsatz gegen Corona zunächst als „Krieg“ bezeichnet, so habe Franziskus „für eine Erweiterung der Vision“ gesorgt, die ohne martialische Sprache und ohne Sündenböcke auskomme.
Kurz-Interview mit dem Papst
Was er denn gedacht habe, als er damals über den menschenleeren Platz auf den Dom zugegangen sei, haben die Macher des Buches Franziskus gefragt. Seine Antwort: „Ich dachte an die Einsamkeit so vieler Menschen…“ Und weiter: „Wir sitzen alle im selben Boot, und wir wissen nicht, wie viele von uns von Bord gehen werden…“ Das Kurz-Interview mit dem Papst findet sich in diesem außergewöhnlichen Band.
(vatican news)
Ein Auszug aus dem Buch
Erinnerungen an ein Gebet, das die Welt vereint hat
Der Papst hat soeben eine seiner Mittwochsaudienzen beendet. Er hält einen Moment inne und betrachtet die Bilder vom 27. März, lässt das wieder aufleben, was an jenem Freitag in der Fastenzeit geschehen ist. Vor seinem geistigen Auge die Etappen der Statio Orbis Revue passieren zu lassen, die auf dem menschenleeren Petersplatz stattfand, unter prasselndem Regen, mit Gebeten, die vom Sirenengeheul der Krankenwagen unterbrochen wurden, ist für ihn eine Erfahrung, die über das bloße Erinnern hinausgeht. In seinen Gesichtszügen zeigt sich wieder jene innere Haltung des Gebets.
Wir fragen ihn, was er empfunden hat, als er schweigend den Vorplatz der Basilika hinaufging: »Ich ging – völlig allein – und dachte an die Einsamkeit so vieler Menschen... ein umfassender Gedanke, ein Gedanke mit dem Kopf und mit dem Herzen, beide zusammen... Ich habe all das gespürt und bin weitergegangen...«.
Die Welt schaute auf den Bischof von Rom und betete mit ihm, in Stille.
Sie schaute auf den Papst als Fürsprecher zwischen Gott und uns, seinem Volk. Wir fragen Franziskus, was er in diesem Augenblick zu Gott gesagt hat: »Du kennst das, schon im Jahr 1500 hast du eine solche schlimme Situation gelöst, "meté mano". (Umgangssprachliche argentinische Redewendung, Anm.d.Red.) Diese Redewendung "leg Hand an" gefällt mir gut. Oft sage ich im Gebet: "Bitte leg dort Hand an!«.
Die Augen des Papstes sind auf den leeren Petersplatz gerichtet. Wir fragen ihn, was er in diesem Moment gedacht hat, welche Gedanken über die Menschen, das Leid so vieler Menschen, ihm durch den Kopf gegangen sind. »Zwei Dinge kamen mir in den Sinn: der leere Platz und die trotz der Entfernung vereinten Menschen … und auf dieser Seite das Boot mit den Migranten, das Denkmal... Wir sind alle im selben Boot, und wir wissen nicht, wie viele von uns von Bord gehen werden... Ein einziges Drama spielt sich vor dem Boot ab, die Seuche, die Einsamkeit... in der Stille....«.
Das Boot wird im Markusevangelium erwähnt, das an jenem Abend gelesen wurde. Und es ist auch auf dem Platz präsent, durch das Denkmal, das an die Migranten erinnert. Daher sah man den Blick des Bischofs von Rom ab und zu zu den rechten Kolonnaden schweifen: zu dem Denkmal, das in der Dunkelheit kaum zu erkennen war.
»Das Boot!...«, wiederholt der Papst mit leiser Stimme. Fragen wir ihn also, an wen er in diesen Momenten besonders dachte, wen er für besonders bedürftig hielt, wen er dem Herrn im Gebet anvertraut hat. Er antwortet, wieder mit leiser Stimme: »Alles war vereint: das Volk, das Boot und das Leid aller...«.
Was hat dem Papst inneren Halt gegeben? Woraus hat er in diesem so intensiven, dramatischen Moment Kraft und Hoffnung geschöpft? Franziskus schweigt einen kurzen Augenblick und betrachtet das Foto: »Die Füße des Gekreuzigten zu küssen gibt immer Hoffnung. Er weiß, was es heißt, voranzugehen, und er kennt die Quarantäne, weil sie Ihm zwei Nägel ins Fleisch schlugen, um ihn festzuhalten. Die Füße Jesu sind ein Kompass im Leben der Menschen, wenn sie gehen und wenn sie stehen bleiben. Die Füße des Herrn rühren mich sehr...«.
Er lässt die Bilder langsam an sich vorüberziehen. Da ist jenes, das ihn in liturgischen Gewändern im Atrium der Basilika zeigt. Auf dem Boden befindet sich eine große Inschrift, 11. Oktober 1962. Wir weisen ihn darauf hin. Er ruft aus: »Das war der Beginn des Konzils!«. Wir fügen der Erinnerung auch die Worte aus der berühmten "Mondschein-Predigt" von Johannes XXIII. hinzu, der unerwartet am Fenster seines Arbeitszimmers erschien, um eine große Schar von Gläubigen mit Fackeln in den Händen zu segnen, und dabei sagte: »Bringt euren Kindern eine Liebkosung vom Papst.«
Franziskus hört schweigend zu... »In dem Moment habe ich da gar nicht dran gedacht...«. Es ist eine glückliche Fügung ... fast so, als ob es ein Zeichen dafür war, dass eine neue Liebkosung des Papstes nach Hause gebracht werden sollte, in jedes Haus, in das Leid und in die Einsamkeit isolierter Familien, auf die Krankenstationen, wo die Kranken ihren Kalvarienberg ohne die Nähe und den Trost ihrer geliebten Angehörigen beschreiten müssen.
Er nickt. »Ja, wirklich...«.
Wir bitten ihn, die mit den Fotos verbundenen Erinnerungen wieder aufleben zu lassen. »Das dort... das war im Gebet vor dem Herrn... Ein Fürbittgebet vor Gott...«. Was beeindruckt, ist die Abwesenheit von Menschen auf dem trostlos leeren Platz. So anders als die anderen Male, bei anderen Gottesdiensten und Zeremonien. Aber hat der Papst die Anwesenheit der Gläubigen, der Glaubenden und Nichtglaubenden gespürt? Hat er gespürt, dass in diesem Moment so viele Menschen über die Medien mit dem Nachfolger Petri und miteinander verbunden waren?
»Ich stand in Kontakt zu den Menschen. Ich war in keinem Augenblick allein...«.
Und zu dem leeren Platz sagt er: »...das war beeindruckend«.
Die Statio Orbis war nüchtern, ohne alles. Ohne die Beteiligung des Volkes Gottes. Und doch war einiges bedeutungsvoll gegenwärtig. Wir fragen ihn, wie er das erlebt hat: »Nun. Da war die Jungfrau Maria... Ich habe darum gebeten, dass die selige Jungfrau dort sein soll, die Salus Populi Romani, ich wollte, dass sie dort ist.... Und Christus... der wundertätige Christus...«.
Es wurde gesagt und geschrieben, dass die Ereignisse vom 27. März in die Geschichte eingehen, im Gedächtnis aller lebendig bleiben werden. Der Papst schließt das Buch der Erinnerungen und sagt: »Ich weiß es nicht... Es war etwas Einzigartiges...«.
Zusammengestellt von Lucio Adrian Ruiz
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