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„Fratelli tutti“: Franziskus’ Sorge gilt der Würde

Marktwirtschaft und Globalisierung - für Franziskus ein rotes Tuch? Auch bei der jüngsten Papstenzyklika „Fratelli tutti“ war Kritik in diese Richtung laut geworden. Franziskus weist auf Schattenseiten der globalen Ökonomie und all jene Missstände hin, die „zu Lasten der Menschenwürde gehen“, sagt der Sozialethiker und Ökonom Friedhelm Hengsbach SJ. Mit kategorischer Kapitalismuskritik habe das aber wenig zu tun.

Anne Preckel - Vatikanstadt

„Ich finde das interessant, dass kein einziger Satz in dem  gleichsam das Wort Kapitalismus gebraucht“, unterstreicht der Jesuit im Interview mit Radio Vatikan. Franziskus kritisiere eine Herrschaft des Marktes und spreche davon, dass freie Märkten allein nicht in der Lage seien, Gesellschaften am Laufen zu halten. Auch auf die unheilvollen Seiten der Finanzspekulation und die Verlierer der Globalisierung gehe er in „Fratelli tutti“ ein, auf Manipulation von Menschen durch Digitalkonzerne, Waffenexporte, die Aufrüstung in der EU und vieles mehr: „Aber das läuft nicht unter dem Stichwort Kapitalismuskritik, er differenziert das ja sehr stark“, so Hengsbach.

„Die Wirtschaft läuft im eigenen Interesse und nicht im Interesse der Allgemeinheit.“

Für den Papst habe Ökonomie eine große Bedeutung im Hinblick auf „das, was da verloren geht“, hält der Sozialethiker fest – „dass das alles zu Lasten der Würde der Menschen geht, die verletzt werden, die zu Abfall gemacht werden, zu Müll gleichsam. Das ist es, was ihn da bewegt. Die Wirtschaft läuft im eigenen Interesse und nicht im Interesse der Allgemeinheit.“ Hengsbach hat mit Blick auf „Fratelli tutti“ auf den „Irrglauben“ , „dem Markt die Lösung sozialer Probleme zuzutrauen“.

Gemeinwohl und Entwicklung  

Gemeinwohl und Entwicklung für alle Menschen sind es aber, die für den Papst Ziele des Wirtschaftens sein sollten, wie Franziskus immer wieder betont. „Das christliche Denken ist nicht prinzipiell gegen die Aussicht auf Profit, sondern gegen Profit um jeden Preis, gegen einen Profit, der den Menschen vergisst, ihn zum Sklaven macht, ihn auf eine Sache unter Sachen reduziert, auf eine Variable eines Prozesses, den er in keiner Weise kontrollieren oder dem er sich in keiner Weise widersetzen kann“, sagte er jüngst vor Vertretern eines italienischen Geldinstitutes im Vatikan. Der Papst wiedersprach hier zugleich dem Eindruck, Marktdenken und kirchliche Soziallehre ließen sich gegeneinander ausspielen.

Pluralität des Wirtschaftens

Auch „Fratelli tutti“ zeige auf, dass der Papst durchaus klare Vorstellungen davon hat, wie ein nachhaltiges Unternehmertum aussehen könnte, erinnert Hengsbach. Die entsprechenden Textstellen müsse man allerdings aus dem dichten Enzyklika-Text herausfiltern, merkt er an, sie stünden auch nicht immer im erwarteten Rahmen. So mancher Kritiker hätte wohl „das andere, was Franziskus auch richtig sagt“, überlesen – zum Beispiel „dass die Unternehmertätigkeit, die Kreativität der Unternehmer, die Pluralität überhaupt des Wirtschaftens eine ungeheure Notwendigkeit ist. Das lobt der Papst und das unterstützt er auch.“

Hier zum Hören

Ebenfalls differenziert sehe der Papst auf Liberalismus und Populismus (im fünften Kapitel), so Hengsbach. Hier hatten Kritiker t, der Papst schere alles über einen Kamm. „Üblicherweise werden Populismus und Liberalismus einander entgegengesetzt: Das Volk rebelliert gegen die kosmopolitisch-liberalen Eliten. Für den Papst ist alles eins“, beschwerte sich zum Beispiel ein deutscher Wirtschaftsjournalist.

Gegen Aktion auf Kosten der Schwachen

Franziskus gehe auf verschiedene Aspekte des Liberalismus ein, erläutert Hengsbach. Gegen den „marktwirtschaftlichen Wettbewerb als Grundform menschlicher Beziehungen muss der Papst zurecht Stellung beziehen“, so der Jesuit. Auch gegen einen Vorrang der Finanzmärkte vor der Realwirtschaft und die Priorisierung des privaten Güterangebotes gegenüber der Bereitstellung öffentlicher Güter durch Gesellschaft oder Staat wende sich Franziskus. Mit der Corona-Pandemie nehme diese Form des Liberalismus auch etwas ab, ergänzt Hengsbach.

Spaltung und Heimatlosigkeit

Zu Recht, findet der Sozialethiker, beklagt der Papst die Spaltung der Gesellschaften – in einerseits „eine Elite-Oberschicht, die global agiert, gleichsam als Gewinner aus der Globalisierung hervorgegangen und überall zu Hause ist, die staatliche Subventionen kassiert und dann auch noch Steuervermeidung versucht“. Auf der anderen Seite stünde eine Bevölkerungsschicht, die sich „so richtig abgehängt fühlt“. Deren Verlorenheit habe bei Franziskus auch etwas mit Entfremdung und Heimatlosigkeit zu tun, ergänzt Hengsbach:

„Ich glaube, dass der Papst auch so die Menschen im Hintergrund hat, die ihren Lebensstandard bedroht sehen, die das Vertrauen, dass die Umwelt noch gerettet werden kann, verloren haben, oder die entfremdet sind von dem, was ihnen vertraut gewesen ist – die sich gleichsam heimatlos fühlen.“

Positive Elemente des Volksbegriffes

Gegen Liberalismus und Populismus macht Fanziskus in „Fratelli tutti“ den Volksbegriff stark, deren „positiven Elemente“ er betone. Dabei betrachte er Volk und Demokratie vielschichtig. Volk – das sei beim Papst „zunächst grundsätzlich positiv zu verstehen“: „Das hat etwas mit Heimat zu tun, mit Verbundenheit, mit Brauchtum, mit regionaler Zusammengehörigkeit“, so Hengsbach. Zu recht erkenne der Papst den Wert „kommunaler Nachbarschaften, verwandtschaftlicher Beziehungen, Arbeitsbeziehungen der Region und nationaler Identität" an, so Hengsbach. Ausgehend von der Bedrohung dieser Bindungen wende sich der Papst gegen die Bedrohung und Überforderung der Demokratien - etwa durch wirtschaftliche Interessen. Auch eine Sorge über die Vereinnahmung nationaler Gesellschaften durch supranationale Behörden könnte beim Papst eine Rolle spielen, vermutet Hengsbach.

Rückschau auf sein Pontifikat

Die in „Fratelli tutti“ hervortretende Sorge des Papstes um „die Armen, Schwachen und diejenigen, die an den Rand gedrängt werden und deren Würde verletzt wird“, habe ihn beim Lesen des Lehrschreibens „ungeheuer beeindruckt“, bekannte der Jesuit. Franziskus reflektiere „sehr nachdenklich die acht Jahre seines Amtes und spüre dem nach“, formuliert der Sozialethiker seinen Eindruck vom päpstlichen Rundschreiben.

Personale Dimension  

Dabei stelle der Papst Missstände im globalen Wirtschaftssystem immer wieder in eine „Dimension der persönlichen Beziehungen“. Der Papst nutze hier eine „Sprache, die auf persönliche Einstellung hingeht“ und die durch eigene bewegende Erfahrungen geprägt sei – etwa seine Begegnung mit Migranten auf der Mittelmeerinsel Lampedusa. Diese „Liebe und Dialogbereitschaft im Mitempfinden, der Zuneigung für die Nächsten und dann auch entfernten Nächsten“ berühre und öffne das Herz, so Hengsbach.

Vermisste Kompaktheit

Gleichwohl hätte sich der Wirtschaftsethiker von dem dichten und stellenweise assoziativ geschriebenen Papstschreiben gewünscht, der Papst hätte das ein oder andere Thema kompakter behandelt und strukturelle Fragen stärker von persönlich Erfahrbarem getrennt. Dadurch wären die Stärken der Enzyklika besser zutage getreten, deutet der Sozialethiker gegenüber Radio Vatikan. „Fantastisch“ findet es Hengsbach zum Beispiel, wie Papst Franziskus von einer Politik im Dienst des Gemeinwohls spricht oder von einer Ächtung der Theorie des gerechten Krieges, der atomaren Aufrüstung und der Todesstrafe – „das sind Dinge, die liegen ganz nahe! Da braucht man nur in den Gefängnissen der USA beispielsweise mal aufräumen oder anderswo...“

Die Papstkritik an systemischen Missständen verschenkt in der neuen Enyklika, so findet Hengsbach, also ein wenig ihr Potential - durch die „Dualität, wie der Papst schreibt“. Darin legt nach Ansicht des Sozialethikers auch der Grund, warum manche Kritiker das Papstschreiben nur selektiv gelesen haben und warum „Fratelli tutti“ insgesamt eher gedämpfte Resonanz gehabt hat: „Diese Vermischung irritiert“, urteilt Hengsbach.

(vatican news – pr)


 

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12. November 2020, 09:28