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Der hl. Hieronymus starb vor 1.600 Jahren in Betlehem Der hl. Hieronymus starb vor 1.600 Jahren in Betlehem 

Wortlaut: Papst-Schreiben zum 1600. Todestag des hl. Hieronymus

Hier finden Sie das Apostolische Schreiben, mit dem Papst Franziskus den hl. Hieronymus würdigt, in vollem Wortlaut und offizieller deutscher Übersetzung.

APOSTOLISCHES SCHREIBEN
SCRIPTURAE SACRAE AFFECTUS
VON PAPST FRANZISKUS
anlässlich des 1600. Todestages des heiligen Hieronymus

Eine leidenschaftliche Liebe zur Heiligen Schrift, eine aufrichtige und zärtliche Liebe zum geschriebenen Wort Gottes ist das Erbe, das der heilige Hieronymus der Kirche durch sein Leben und seine Werke hinterlassen hat. Diese Worte, die dem liturgischen Gedenktag des Heiligen entnommenen sind , bieten uns einen unverzichtbaren Interpretationsschlüssel, um anlässlich des 1600. Todestages seine herausragende Gestalt in der Kirchengeschichte und seine große Liebe zu Christus kennenzulernen. Diese Liebe durchzieht – wie ein Fluss, der sich in viele Bäche verästelt – sein Werk als unermüdlicher Gelehrter, Übersetzer, Exeget, profunder Kenner und leidenschaftlicher Verbreiter der Heiligen Schrift; als feinsinniger Ausleger der biblischen Texte; als glühender, zuweilen auch vehementer Verteidiger der christlichen Wahrheit; als asketischer und unnachgiebiger Eremit und erfahrener Seelenführer, in seiner Großherzigkeit und Zärtlichkeit. Heute, nach 1600 Jahren, ist seine Gestalt für uns Christen des 21. Jahrhunderts auch weiterhin hochaktuell. 

Einleitung

Am 30. September 420 beendete Hieronymus in Betlehem in der von ihm in der Nähe der Geburtsgrotte gegründeten Gemeinschaft sein irdisches Leben. So vertraute er sich dem Herrn an, den er in der Schrift immer gesucht und kennengelernt hatte und dem er als Richter bereits begegnet war, fiebernd, in einer Vision, vielleicht in der Fastenzeit des Jahres 375. Bei jenem Ereignis, das eine entscheidende Wende in seinem Leben darstellte, einen Moment der Umkehr und des Perspektivwechsels, fühlte er sich vor den Richterstuhl geschleppt: »Nach meinem Stande befragt, gab ich zur Antwort, ich sei Christ. Der auf dem Richterstuhl saß, sprach zu mir: „Du lügst, du bist ein Ciceronianer, aber kein Christ.“« Denn Hieronymus hatte von Jugend an die klare Schönheit der klassischen lateinischen Texte geliebt, verglichen mit denen die Schriften der Bibel ihm anfangs grob und grammatisch fehlerhaft erschienen, zu herb für seinen kultivierten literarischen Geschmack.
Jene Episode seines Lebens trägt zu der Entscheidung bei, sich vollkommen Christus und seinem Wort zu widmen. So setzte er sich ganz durch seine unermüdliche Arbeit als Übersetzer und Kommentator dafür ein, die göttlichen Schriften den anderen immer besser zugänglich zu machen. Jenes Ereignis gibt seinem Leben eine neue und entschiedenere Richtung: Diener des Wortes Gottes zu werden, verliebt in das „Fleisch der Schrift“. In der unablässigen Forschung, die sein Leben gekennzeichnet hat, macht er sich so die Studien seiner Jugendzeit und die in Rom erhaltene Bildung zunutze und ordnet sein Wissen auf den reiferen Dienst an Gott und an der kirchlichen Gemeinschaft hin.
Daher zählt der heilige Hieronymus mit Fug und Recht zu den großen Gestalten der Alten Kirche, in jener Epoche, die als das goldene Zeitalter der Patristik bezeichnet wird, als wahre Brücke zwischen Ost und West: Er ist ein Jugendfreund des Rufinus von Aquileia, begegnet Ambrosius und führt eine umfangreiche Korrespondenz mit Augustinus. Im Osten lernt er Gregor von Nazianz, Didymus den Blinden und Epiphanios von Salamis kennen. Die christliche Ikonographie lässt ihm seit jeher besondere Verehrung zuteilwerden, indem sie ihn zusammen mit Augustinus, Ambrosius und Gregor dem Großen als einen der vier großen westlichen Kirchenlehrer darstellt.
Bereits meine Vorgänger haben seine Gestalt bei mehreren Gelegenheiten in Erinnerung gerufen. Vor einem Jahrhundert, anlässlich seines 1500. Todestages, widmete Benedikt XV. ihm die Enzyklika Spiritus Paraclitus (15. September 1920), in der er ihn als »doctor maximus explanandi Scripturis« bezeichnete. In jüngerer Zeit hat Benedikt XVI. seine Person und sein Werk in zwei aufeinanderfolgenden Katechesen vorgestellt. Nun an seinem 1600. Todestag möchte auch ich an den heiligen Hieronymus erinnern und ausgehend von seiner großen Liebe zu den Schriften die Aktualität seiner Botschaft und seiner Lehren erneut vor Augen führen.
In diesem Sinne kann er als sicherer Wegweiser und privilegierter Zeuge mit der XII. Ordentlichen Vollversammlung der Bischofssynode, die dem Wort Gottes gewidmet war, in geistige Verbindung gebracht werden wie auch mit dem Apostolischen Schreiben Verbum Domini (VD) meines Vorgängers Benedikt XVI., das genau am Gedenktag des Heiligen, am 30. September 2010 veröffentlicht wurde.

Betlehem heute
Betlehem heute

Von Rom nach Betlehem

Das Leben und der persönliche Weg des heiligen Hieronymus finden auf den Straßen des Römischen Reiches, zwischen Europa und dem Orient, statt. Geboren um 345 in Stridon, an der Grenze zwischen Dalmatien und Pannonien, im Gebiet des heutigen Kroatien oder Slowenien, erhält er eine solide Erziehung und Bildung in einer christlichen Familie. Wie es damals üblich war, wird er im Erwachsenenalter getauft, in den Jahren, in denen er sich als Student der Rhetorik in Rom aufhält, zwischen 358 und 364. In dieser römischen Periode wird er auch zum unersättlichen Leser der lateinischen Klassiker, die er unter der Anleitung der berühmtesten Lehrmeister der Rhetorik seiner Zeit studiert.
Nach Abschluss der Studien unternimmt er eine lange Reise nach Gallien, die ihn in die heute in Deutschland gelegene Kaiserstadt Trier führt. Dort kommt er zum ersten Mal mit dem östlichen Mönchtum in Kontakt, das vom heiligen Athanasius verbreitet worden war. So reift in ihm ein tiefer Wunsch heran, der ihn nach Aquileia begleitet, wo er mit einigen Freunden einen »Chor der Seligen«, eine Zeit des Gemeinschaftslebens beginnt.
Um das Jahr 374 beschließt er nach seiner Ankunft in Antiochia, sich in die Wüste Chalkis zurückzuziehen, um ein immer radikaleres asketisches Leben zu führen, in dem das Studium der biblischen Sprachen, vor allem Griechisch und dann Hebräisch, einen wichtigen Stellenwert einnimmt. Er vertraut sich einem jüdischen Bruder an, der Christ geworden ist, und dieser führt ihn in die Kenntnis der für ihn neuen Sprache Hebräisch und der Laute ein, die er als »Zisch- und Kehllaute« bezeichnet.
Hieronymus wählt die Wüste und somit das Einsiedlerleben und erfährt sie in ihrer tiefsten Bedeutung: als Ort grundlegender existentieller Entscheidungen, der Vertrautheit und der Begegnung mit Gott, wo er durch Betrachtung, innere Prüfungen, geistlichen Kampf zur Erkenntnis der Schwäche gelangt, mit einem größeren Bewusstsein um die eigenen Grenzen und die Grenzen anderer; er erkennt die große Bedeutung der Tränen. So spürt er in der Wüste die konkrete Gegenwart Gottes, die Notwendigkeit der Beziehung des Menschen zu ihm und seinen barmherzigen Trost. In diesem Zusammenhang möchte ich gern eine Anekdote aus der apokryphen Überlieferung in Erinnerung rufen. Hieronymus fragt den Herrn: „Was willst du von mir?“ Und dieser antwortet: „Du hast mir noch nicht alles gegeben.“ – „Aber Herr, ich habe dir doch dies und das und jenes gegeben …“ – „Es fehlt etwas“ – „Was?“ – „Gib mir deine Sünden, damit ich die Freude habe, sie noch einmal zu vergeben.“
Wir finden ihn in Antiochia wieder, wo er von Bischof Paulinus zum Priester geweiht wird, und dann gegen 379 in Konstantinopel. Dort lernt er Gregor von Nazianz kennen, setzt er seine Studien fort, widmet er sich der Übersetzung wichtiger Werke aus dem Griechischen ins Lateinische (Predigten des Origenes und die Chronik des Eusebius) und atmet er die Atmosphäre des Konzils, das im Jahr 381 in jener Stadt abgehalten wurde. In diesen Jahren werden in den Studien seine Leidenschaft und seine Großherzigkeit offenbar. Eine gesegnete Unruhe treibt ihn an und macht ihn unermüdlich und leidenschaftlich in der Forschung: »Oft verzweifelte ich, oft gab ich die Sache dran und nahm sie voller Lernbegierde wieder auf«, um von der »bitteren Buchstabensaat« dieser Studien geführt »so herrliche Früchte« zu ernten.
Im Jahr 382 kehrt Hieronymus nach Rom zurück und stellt sich Papst Damasus zur Verfügung, der seine großen Qualitäten erkennt und ihn zu seinem engen Mitarbeiter macht. Hier stürzt sich Hieronymus unaufhörlich in die Arbeit, ohne die geistliche Dimension zu vergessen: Auf dem Aventin gründet er mit Unterstützung adliger römischer Frauen, die radikal nach dem Evangelium leben möchten, wie Marcella, Paula und ihre Tochter Eustochium, einen Kreis, der sich in erster Linie der Lektüre und dem genauen Studium der Heiligen Schrift widmet. Hieronymus ist Exeget, Lehrer und Seelenführer. In dieser Zeit nimmt er eine Revision der früheren lateinischen Übersetzungen der Evangelien und vielleicht auch anderer Teile des Neuen Testaments vor, setzt seine Tätigkeit als Übersetzer von Predigten und Schriftkommentaren des Origenes fort, führt eine umfangreiche Korrespondenz, setzt sich öffentlich mit häretischen Autoren auseinander – zuweilen übertrieben und maßlos, aber immer aufrichtig beseelt von dem Wunsch, den wahren Glauben und den überlieferten Schatz der Schriften zu verteidigen.
Diese intensive und fruchtbare Zeit geht mit dem Tod von Papst Damasus zu Ende. Hieronymus sieht sich gezwungen, Rom zu verlassen. Gefolgt von Freunden und einigen Frauen, die den Wunsch haben, das begonnene geistliche Leben und das Bibelstudium fortzusetzen, bricht er nach Ägypten – dort begegnet er dem großen Theologen Didymus dem Blinden – und Palästina auf, um sich dann im Jahr 386 endgültig in Betlehem niederzulassen. Er nimmt seine philologischen Studien vor dem Hintergrund der konkreten Orte, die Schauplatz jener Berichte waren, wieder auf.
Die große Bedeutung, die er den heiligen Stätten zumisst, kommt nicht nur durch die Entscheidung zum Ausdruck, von 386 bis zu seinem Tod in Palästina zu leben, sondern auch durch den Dienst an den Pilgern. In seinem Lieblingsort Betlehem gründet er bei der Geburtsgrotte zwei „Zwillingsklöster“: ein Frauen- und ein Männerkloster mit Hospizen für die Aufnahme der Pilger, die ad loca sancta kommen. So zeigt sich seine großherzige Gastfreundschaft für jene, die in diese Region kamen, um die Orte der Heilsgeschichte zu sehen und zu berühren und so die kulturelle mit der geistlichen Forschung zu verbinden.
Im Hören auf die Heilige Schrift findet Hieronymus sich selbst, das Angesicht Gottes und das der Brüder und Schwestern und vertieft seine Liebe zum Gemeinschaftsleben. Daraus entspringt sein Wunsch, wie schon in den Zeiten von Aquileia zusammen mit Freunden zu leben und Mönchsgemeinschaften zu gründen. Dabei verfolgt er das koinobitische Ideal des Ordenslebens, das das Kloster als „Übungsstätte“ zur Herausbildung von Menschen betrachtet, »die sich unter allen die Niedrigsten dünken, um so die ersten unter allen zu werden«, die in der Armut glücklich sind und durch den eigenen Lebensstil lehren können. Denn für ihn ist es der Bildung zuträglich, »unter der Zucht eines Abtes, […] in Gesellschaft vieler« zu leben, um Demut, Geduld, Schweigen und Sanftmut zu lernen, im Bewusstsein, dass »die Wahrheit keine Winkelzüge kennt und sich nicht der Ohrenbläser bedient«. Außerdem gesteht er, sich »nach den Klosterzellen zu sehnen. Jenen Ameisen wünschte ich gleich zu werden, bei denen man für das Wohl des Ganzen arbeitete, wo dem Einzelwesen nichts eignet, vielmehr allen alles gehört«.
Das Studium ist für Hieronymus kein vorübergehendes Vergnügen als Selbstzweck, sondern eine Übung des geistlichen Lebens, ein Mittel, um zu Gott zu gelangen. Und so erfährt auch seine klassische Bildung im reiferen Dienst an der kirchlichen Gemeinschaft eine neue Ausrichtung. Denken wir an die Hilfe, die er Papst Damasus geleistet hat, an die Unterweisung, die er den Frauen seit den ersten regelmäßigen Zusammenkünften auf dem Aventin gibt, insbesondere im Hebräischen: So nimmt er Paula und Eustochium sogar »in die Kämpfe der Übersetzer« hinein und versetzt sie in die Lage – in der damaligen Zeit etwas völlig Neues –, die Psalmen in der Originalsprache zu lesen und zu singen.
Er stellt seine Bildung in den Dienst anderer und erachtet sie als notwendig für jeden, der das Evangelium verkündet. So erinnert er seinen Freund Nepotian: »Das Wort des Priesters soll die Würze der Schrift offenbaren. Du sollst kein Deklamator sein, auch kein geschwätziger Zungendrescher, hinter dessen Worten nichts steckt. Vielmehr soll sich heilige Wissenschaft (mysterii) und Vertrautheit mit den Geheimnissen (sacramentorum) deines Gottes in deiner Predigt kundtun. Überlassen wir es den Ungebildeten, mit leeren Worten um sich zu werfen und durch Zungenfertigkeit die Bewunderung des unerfahrenen Volkes auf sich zu lenken. Eine leider nicht seltene Anmaßung bedeutet es, das zu erklären, was man selbst nicht versteht; und am Ende hält man sich selbst für ein Licht, wenn man anderen etwas weisgemacht hat«.
In Betlehem verbringt Hieronymus bis zu seinem Tod im Jahr 420 die fruchtbarste und intensivste Zeit seines Lebens. Er widmet sich ganz dem Studium der Heiligen Schrift und ist mit dem monumentalen Werk der Übersetzung des ganzen Alten Testaments aus dem hebräischen Original befasst. Gleichzeitig kommentiert er die Bücher der Propheten, die Psalmen sowie die paulinischen Werke und verfasst Hilfsmittel für das Bibelstudium. Die kostbare Arbeit, die er auf seine Werke verwendet hat, ist Frucht der Auseinandersetzung und der Zusammenarbeit, vom Kopieren und Sammeln der Handschriften bis hin zur Reflexion und Diskussion: »Ich habe bei der Untersuchung der göttlichen Bücher nie auf meine eigenen Kräfte vertraut […]. Ich habe die Gewohnheit, Fragen zu stellen, auch zu dem, was ich zu wissen glaubte, und erst recht zu dem, worüber ich mir nicht sicher war« . Im Bewusstsein um seine eigenen Grenzen bittet er beständig um Unterstützung durch das Gebet für das Gelingen seiner Übersetzung der heiligen Texte »im selben Geist, in dem sie geschrieben wurden«. Dabei vergisst er nicht, auch Werke von Autoren zu übersetzen, die für die exegetische Tätigkeit unverzichtbar sind, wie Origenes, um »dieses Material allen verfügbar zu machen, die die wissenschaftlichen Studien vertiefen wollen«.
Hieronymus’ Studien erweisen sich als eine in der Gemeinschaft und im Dienst an der Gemeinschaft unternommene Anstrengung, als Vorbild der Synodalität auch für uns, für unsere Zeit und für die verschiedenen kulturellen Einrichtungen der Kirche, damit diese stets ein Ort sein mögen, »wo aus dem Wissen ein Dienst wird, denn ohne ein Wissen, das aus der Zusammenarbeit entsteht und in sie mündet, gibt es keinen echten, ganzheitlich menschlichen Fortschritt« . Die Grundlage einer solchen Gemeinschaft ist die Schrift, die wir nicht alleine lesen können: »Die Bibel wurde vom Volk Gottes und für das Volk Gottes unter der Eingebung des Heiligen Geistes geschrieben. Nur in dieser Gemeinschaft mit dem Volk Gottes können wir wirklich mit dem „Wir“ in den Kern der Wahrheit eintreten, die Gott selbst uns mitteilen will«.
Dank seiner großen, vom Wort Gottes genährten Lebenserfahrung wird Hieronymus durch eine umfangreiche Korrespondenz zum Seelenführer. Er macht sich zum Weggefährten, in der Überzeugung, dass man »keine Kunst ohne Meister lernt«, wie er an Rusticus schreibt: »Alles, was ich Dir in aller Freundschaft zu sagen habe, alles versuche ich, der erfahrene Seemann, der in manchem Sturm Schiffbruch gelitten hat, dem Anfänger ans Herz zu legen.« Von jenem friedlichen Flecken Erde aus verfolgt er die Geschehnisse einer Zeit, die von großen Umbrüchen und Ereignissen wie der Plünderung Roms im Jahr 410 geprägt ist, die ihn zutiefst erschüttert hat.
In seinen Briefen bringt er die Auseinandersetzungen in der Lehre zur Sprache und verteidigt stets den rechten Glauben. Er erweist sich hier als Mann der Beziehungen, die er mit Nachdruck und Güte lebt, in die er sich ganz einbringt, ohne etwas zu schönen, wobei er die Erfahrung macht, dass »die Liebe keinen Marktpreis hat«. So lebt er das, was er liebt, mit Eifer und Aufrichtigkeit. Dieser Einsatz in allen Lebens- und Wirkungsbereichen wird auch daraus ersichtlich, dass er seine Übersetzungsarbeit und seine Kommentare als munus amicitiae allen zur Verfügung stellt. Es ist ein Geschenk – in erster Linie für seine Freunde, an die seine Werke gerichtet und denen sie gewidmet sind und die er bittet, sie eher mit freundschaftlichem als mit kritischem Blick zu lesen, und dann auch für die Leser, seine Zeitgenossen und die aller Zeiten.
Die letzten Jahre seines Lebens verbringt er im betenden persönlichen und gemeinschaftlichen Lesen der Heiligen Schrift, in der kontemplativen Betrachtung, im Dienst an den Brüdern und Schwestern durch seine Werke. Und all das tut er in Betlehem bei der Grotte, wo das Göttliche Wort aus der Jungfrau Maria geboren wurde, im Bewusstsein, dass »glücklich [ist], wer das Kreuz, die Auferstehung, den Ort der Geburt und der Himmelfahrt Christi in seiner Seele trägt. Glückselig, wer Bethlehem in seinem Herzen hat, in dessen Herz Christus täglich geboren wird«.

Leonardo da Vinci: Hl. Hieronymus
Leonardo da Vinci: Hl. Hieronymus

Der weisheitliche Verständnisschlüssel zu seinem Leben

Um die Persönlichkeit des heiligen Hieronymus vollständig zu verstehen, müssen zwei bezeichnende Dimensionen seines Glaubenslebens miteinander verbunden werden: einerseits die absolute und rigorose Hingabe an Gott, unter Verzicht auf jegliches menschliche Wohlgefallen, aus Liebe zum gekreuzigten Christus (vgl. 1 Kor 2,2; Phil 3,8.10); andererseits die beharrliche Forschungstätigkeit, die ausschließlich auf ein immer tieferes Verständnis des Geheimnisses des Herrn ausgerichtet ist. Dieses zweifache Zeugnis, das der heilige Hieronymus wunderbar ablegt, kann ein Vorbild sein: in erster Linie für die Mönche, damit alle, die von Askese und Gebet leben, angespornt werden, sich beharrlich der Mühsal des Forschens und Denkens zu widmen; und außerdem für die Gelehrten, die daran denken sollten, dass das Wissen auf religiöser Ebene nur dann einen Wert hat, wenn es auf der ausschließlichen Liebe zu Gott, auf dem Verzicht auf jeglichen menschlichen Ehrgeiz und alles weltliche Streben gründet.
Diese Dimensionen wurden im Bereich der Kunstgeschichte aufgegriffen, wo der heilige Hieronymus häufig anzutreffen ist: Große Meister der westlichen Malerei haben uns ihre Darstellungen hinterlassen. Man könnte die verschiedenen ikonografischen Typen in zwei verschiedene Linien einordnen. Die eine sieht ihn vor allem als Mönch und Büßer, mit einem vom Fasten ausgemergelten Leib, zurückgezogen in der Wüste, kniend oder auf dem Boden kauernd, oft mit einem Stein in der Rechten, um sich auf die Brust zu schlagen, und den Blick auf den Gekreuzigten gerichtet. In diese Linie gehört das ergreifende Meisterwerk von Leonardo da Vinci, das in der Vatikanischen Pinakothek aufbewahrt wird. Eine andere Art der Darstellung zeigt uns Hieronymus im Gewand des Gelehrten, an seinem Schreibtisch sitzend, um die Heilige Schrift zu übersetzen und zu kommentieren, umgeben von Büchern und Pergamenten, mit der Sendung beauftragt, durch das Denken und das Schreiben den Glauben zu verteidigen. Albrecht Dürer, um ein weiteres berühmtes Beispiel anzuführen, hat ihn mehrfach in dieser Haltung dargestellt.
Die beiden eben erwähnten Aspekte sind auf dem Gemälde von Caravaggio in der Galleria Borghese in Rom miteinander verbunden: In ein und derselben Szene ist der alte Asket dargestellt, spärlich mit einem roten Tuch bekleidet, auf dem Tisch ein Totenschädel als Symbol der Eitelkeit der irdischen Wirklichkeiten; zugleich ist jedoch auch seine Eigenschaft als Gelehrter eindrücklich dargestellt, den Blick fest auf das Buch geheftet, während seine Hand die Feder in das Tintenfass taucht, mit der typischen Geste des Schriftstellers.
Auf ähnliche Weise – ich würde sie als „weisheitlich“ bezeichnen – müssen wir das zweifache Profil von Hieronymus’ biographischem Weg verstehen. Wenn er – als wahrer „Löwe von Betlehem“ – übertriebene Töne anschlug, dann tat er dies im Streben nach einer Wahrheit, der er bereitwillig und bedingungslos dienen wollte. Und wie er selbst in seiner ersten Schrift Leben des heiligen Paulus, des ersten Einsiedlers erklärt, sind Löwen fähig zu „fürchterlichem Gebrüll“, aber auch zur Trauer. Daher sind jene, die bei ihm zwei parallel verlaufende Charakterzüge zu sein scheinen, in Wirklichkeit Elemente, mit denen der Heilige Geist seine innere Einheit hat heranreifen lassen.

Liebe zur Heiligen Schrift

Der besondere Wesenszug der geistlichen Gestalt des heiligen Hieronymus ist und bleibt zweifellos seine leidenschaftliche Liebe zum Wort Gottes, das der Kirche in der Heiligen Schrift überliefert ist. Wenn alle Kirchenlehrer – und insbesondere jene des frühen Christentums – ihre Lehrinhalte ausdrücklich aus der Bibel geschöpft haben, so hat Hieronymus dies auf eine systematischere und gewissermaßen einzigartige Weise getan.
Die Exegeten haben in jüngerer Zeit die narrative und poetische Genialität der Bibel entdeckt und gerade aufgrund ihrer Ausdrucksstärke gepriesen. Hieronymus dagegen hob in der Schrift vielmehr den demütigen Charakter der göttlichen Offenbarung hervor, die in der herben und beinahe primitiven Natur der hebräischen Sprache zum Ausdruck kommt, verglichen mit der Erlesenheit des ciceronischen Lateins. Er widmet sich der Heiligen Schrift also nicht aus ästhetischen Gründen, sondern bekanntlich nur, weil sie ihn dahin bringt, Christus kennenzulernen, denn Unkenntnis der Schriften ist Unkenntnis Christi.
Hieronymus lehrt uns, dass nicht nur die Evangelien studiert werden müssen und nicht nur die apostolische Überlieferung, die in der Apostelgeschichte und in den Briefen enthalten ist, kommentiert werden muss: Denn das ganze Alte Testament ist unverzichtbar, um in die Wahrheit und in den Reichtum Christi einzudringen. Das bezeugen die Evangelien selbst: Sie berichten uns von Jesus als Lehrer, der, um sein Geheimnis zu erklären, auf Mose, die Propheten und die Psalmen zurückgreift (vgl. Lk 4,16-21; 24,27.44-47). Auch die Predigttätigkeit von Petrus und Paulus in der Apostelgeschichte ist bezeichnenderweise in den alten Schriften verwurzelt; ohne sie kann man die Gestalt des Gottessohnes, des Heilands, nicht in ganzer Fülle verstehen. Das Alte Testament darf nicht als große Ansammlung von Zitaten betrachtet werden, die die Erfüllung der Prophezeiungen in der Person Jesu von Nazaret belegen; vielmehr ist es nur im Licht der alttestamentlichen „Gestalten“ möglich, den Sinn des Christusereignisses, das in Christi Tod und Auferstehung seine Vollendung fand, in ganzer Fülle zu erkennen. Daher die Notwendigkeit, in der katechetischen Praxis und in der Predigt ebenso wie in den theologischen Abhandlungen den unverzichtbaren Beitrag des Alten Testaments neu zu entdecken, das man lesen und in sich aufnehmen muss wie eine wertvolle Nahrung (vgl. Ez 3,1-11; Offb 10,8-11).
Hieronymus’ völlige Hingabe an die Schrift zeigt sich in einer leidenschaftlichen Ausdrucksform, die der der Propheten des Alten Bundes ähnelt. Aus ihnen schöpft unser Kirchenlehrer das innere Feuer, das zum gewaltig hereinbrechenden Wort wird (vgl. Jer 5,14; 20,9; 23,29; Ml 3,2; Sir 48,1; Mt 3,11; Lk 12,49), das nötig ist, um den glühenden Eifer dessen zum Ausdruck zu bringen, der der Sache Gottes dient. Wie bei Elija, Johannes dem Täufer und auch beim Apostel Paulus entflammt die Empörung über Lüge, Heuchelei und falsche Lehren Hieronymus’ Rede und macht sie provokativ und scheinbar hart. Man versteht die polemische Dimension seiner Schriften besser, wenn man sie als eine Art Abbild der echten prophetischen Tradition betrachtet, die in die eigene Zeit übertragen wird. Hieronymus ist also ein Vorbild des unbeugsamen Zeugnisses für die Wahrheit, die die Form strenger Zurechtweisung annimmt, um zur Umkehr zu bewegen. In der Intensität der Worte und der Bilder kommt der Mut des Dieners zum Ausdruck, der nicht den Menschen, sondern ausschließlich seinem Herrn gefallen will (vgl. Gal 1,10), für den er all seine geistliche Kraft eingesetzt hat.

Das Studium der Heiligen Schrift

Die leidenschaftliche Liebe des heiligen Hieronymus zu den göttlichen Schriften ist vom Gehorsam durchtränkt. Vor allem gegenüber Gott, der sich in Worten mitgeteilt hat, die mit Ehrfurcht gehört werden müssen, und folglich Gehorsam auch gegenüber jenen, die in der Kirche für die lebendige Auslegungstradition der offenbarten Botschaft stehen. Der »Glaubensgehorsam« (Röm 1,5; 16,26) ist jedoch keine rein passive Annahme des Bekannten, sondern verlangt im Gegenteil den aktiven Einsatz in der persönlichen Suche. Wir können den heiligen Hieronymus als treuen und emsigen Diener des Wortes sehen, der ganz darauf aus ist, bei seinen Brüdern und Schwestern im Glauben ein besseres Verständnis des ihnen anvertrauten heiligen „Gutes“ zu fördern (vgl. 1 Tim 6,20; 2 Tim 1,14). Wenn man das, was von den inspirierten Autoren geschrieben wurde, nicht versteht, bleibt das Wort Gottes wirkungslos (vgl. Mt 13,19), und die Liebe zu Gott kommt nicht zum Vorschein.
Nun sind nicht alle Bibelstellen immer unmittelbar zugänglich. Wie es bei Jesaja (29,11) heißt, scheint das heilige Buch auch jenen, die „lesen“ können – die also eine ausreichende intellektuelle Bildung erhalten haben – „versiegelt“ zu sein, hermetisch verschlossen für die Auslegung. Daher muss ein sachkundiger Zeuge eingreifen, der den befreienden Schlüssel bringt, den Schlüssel Christi, des Herrn, der allein in der Lage ist, die Siegel zu lösen und das Buch zu öffnen (vgl. Offb 5,1-10), um die wunderbare Ausgießung der Gnade zu offenbaren (vgl. Lk 4,17-21). Außerdem erklären auch viele praktizierende Christen offen, dass sie nicht in der Lage sind zu lesen (vgl. Jes 29,12) – nicht weil sie Analphabeten wären, sondern weil sie auf die biblische Sprache, ihre Ausdrucksformen und die antiken kulturellen Traditionen nicht vorbereitet sind. Daher ist der biblische Text nicht zu entziffern, so als wäre er in einem unbekannten Alphabet und in einer unverständlichen Sprache geschrieben.
Es wird also die Vermittlung des Auslegers notwendig, der seine „diakonale“ Funktion ausübt, indem er sich in den Dienst derer stellt, die den Sinn dessen, was prophetisch geschrieben wurde, nicht verstehen können. Dies wird am Diakon Philippus gut sichtbar, der vom Herrn aufgefordert wurde, dem Eunuchen entgegenzugehen, der auf seinem Wagen einen Abschnitt aus dem Buch Jesaja liest (53,7-3), ohne jedoch seine Bedeutung erschließen zu können. »Verstehst du auch, was du liest?«, fragt Philippus; und der Eunuch antwortet: »Wie könnte ich es, wenn mich niemand anleitet?« (Apg 8,30-31).
Hieronymus ist unser Wegweiser, weil er wie Philippus (vgl. Apg 8,35) jeden Leser zum Geheimnis Jesu führt, und weil er die für ein korrektes und fruchtbares Verständnis der Heiligen Schriften notwendige exegetische und kulturelle Vermittlung verantwortungsvoll und systematisch annimmt. Die Kenntnis der Sprachen, in denen das Wort Gottes überliefert wurde, die genaue Analyse und Auswertung der Handschriften, die sorgfältige archäologische Forschung und auch die Kenntnis der Auslegungsgeschichte: Alle methodologischen Mittel also, die seinerzeit zur Verfügung standen, werden passend und weise von ihm genutzt, um für ein richtiges Verständnis der inspirierten Schrift Orientierung zu geben.
Eine solche vorbildliche Dimension der Tätigkeit des heiligen Hieronymus ist auch in der Kirche von heute äußerst wichtig. Wenn, wie Dei Verbum lehrt, die Bibel »gleichsam die Seele der heiligen Theologie« und sozusagen das geistliche Rückgrat der christlichen Religionsausübung ist, dann muss sich die Auslegung der Bibel unbedingt auf besondere Sachkenntnis stützen.
Zu diesem Zweck dienen natürlich die Spitzenforschungszentren für Bibelwissenschaft (wie das Päpstliche Institut Biblicum in Rom sowie die École Biblique und das Studium Biblicum Franciscanum in Jerusalem) und Patristik (wie das Augustinianum in Rom), aber auch jede andere Theologische Fakultät muss sich dafür einsetzen, dass die Heilige Schrift so gelehrt wird, dass den Studierenden die Fähigkeit zu kompetenter Bibelauslegung vermittelt wird, sowohl was die Textexegese als auch die Synthese der Biblischen Theologie betrifft. Der Reichtum der Schrift wird leider von vielen nicht erkannt oder geringgeschätzt, weil ihnen die wesentlichen Wissensgrundlagen nicht vermittelt wurden. Neben vermehrten kirchlichen Studien für Priester und Katecheten, die der Fachkenntnis im Bereich der Heiligen Schriften einen höheren Stellenwert einräumen sollen, muss eine Bildung für alle Christen gefördert werden, damit jeder befähigt wird, das heilige Buch zu öffnen und ihm die unschätzbaren Früchte der Weisheit, der Hoffnung und des Lebens zu entnehmen.
Ich möchte an dieser Stelle in Erinnerung rufen, was mein Vorgänger im Apostolischen Schreiben Verbum Domini zum Ausdruck brachte: »Die Sakramentalität des Wortes lässt sich so in Analogie zur Realpräsenz Christi unter den Gestalten des konsekrierten Brotes und Weines verstehen. […] Über die Haltung, die sowohl gegenüber der Eucharistie als auch gegenüber dem Wort Gottes einzunehmen ist, sagt der heilige Hieronymus: „Wir lesen die Heiligen Schriften. Ich denke, dass das Evangelium der Leib Christi ist; ich denke, dass die Heiligen Schriften seine Lehre sind. Und wenn er sagt: Wer mein Fleisch nicht isst und mein Blut nicht trinkt ( Joh 6,53), dann kann man zwar diese Worte auch in Bezug auf das [eucharistische] Mysterium verstehen; dennoch ist der Leib Christi und sein Blut wahrhaft das Schriftwort, die Lehre Gottes.“«
Leider fühlt sich in vielen christlichen Familien keiner in der Lage – wie es dagegen in der Thora vorgeschrieben ist (vgl. Dtn 6,6) –, den Kindern das Wort des Herrn zu vermitteln, in all seiner Schönheit, in all seiner geistlichen Kraft. Aus diesem Grund habe ich den „Sonntag des Wortes Gottes“ eingeführt und zum betenden Lesen der Bibel und zur Vertrautheit mit dem Wort Gottes ermutigt. So wird jede andere Ausdrucksform der Religiosität mit Sinn bereichert, nach der Hierarchie der Werte geordnet und auf das ausgerichtet, was den Höhepunkt des Glaubens darstellt: die volle Zustimmung zum Geheimnis Christi.

Die Vulgata

Die süße Frucht der Anstrengungen des von Hieronymus unternommenen Studiums des Griechischen und des Hebräischen ist die Übersetzung des Alten Testaments ins Lateinische aus dem hebräischen Original. Bis dahin konnten die Christen des Römischen Reiches die Bibel in ihrer Gesamtheit nur auf Griechisch lesen. Während die Bücher des Neuen Testaments auf Griechisch geschrieben waren, gab es für die Bücher des Alten Testaments eine vollständige Übersetzung, die sogenannte Septuaginta (oder Übersetzung der Siebzig), die von der jüdischen Gemeinde von Alexandria um das 2. Jahrhundert herum erstellt worden war. Für die Leser lateinischer Sprache gab es dagegen keine vollständige Übersetzung der Bibel in ihre Sprache, sondern nur einige unvollständige Teilübersetzungen aus dem Griechischen. Hieronymus und denen, die dann sein Werk fortgesetzt haben, kommt das Verdienst zu, eine Revision und eine Neuübersetzung der ganzen Schrift vorgenommen zu haben. Nachdem er in Rom, ermutigt von Papst Damasus, mit der Revision der Evangelien und der Psalmen begonnen hatte, nahm Hieronymus dann an seinem Rückzugsort in Betlehem die Übersetzung aller alttestamentlichen Bücher direkt aus dem Hebräischen in Angriff – eine Arbeit, die sich über Jahre hinzog.
Um diese Übersetzungsarbeit zum Abschluss zu bringen, machte sich Hieronymus seine Kenntnis des Griechischen und des Hebräischen sowie seine solide lateinische Bildung zunutze und bediente sich der philologischen Mittel, die ihm zur Verfügung standen, insbesondere der Hexapla des Origenes. Der endgültige Text verband die Kontinuität in den Formulierungen, die bereits in den allgemeinen Gebrauch eingegangen waren, mit einer größeren Treue zum hebräischen Wortlaut, ohne die Eleganz der lateinischen Sprache zu opfern. Das Ergebnis ist ein wahres Monument, das die Kulturgeschichte des Westens geprägt und ihre theologische Sprache geformt hat. Die Übersetzung des Hieronymus wurde, nach Überwindung einer gewissen Ablehnung, die anfangs vorhanden war, sofort zum Gemeingut sowohl der Gelehrten als auch des christlichen Volkes, daher der Name Vulgata. Das Europa des Mittelalters hat anhand der von Hieronymus übersetzten Bibel lesen, beten und argumentieren gelernt. »Die Heilige Schrift ist so gleichsam zu einem „unermesslichen Wortschatz“ (P. Claudel) und „Bilderatlas“ (M. Chagall) geworden, aus welchen die christliche Kultur und Kunst geschöpft haben.« Die Literatur, die Künste und auch die Volkssprache haben beständig aus der hieronymianischen Bibelübersetzung geschöpft und uns Schätze der Schönheit und der Frömmigkeit hinterlassen.
Aus Ehrfurcht gegenüber dieser unbestreitbaren Tatsache hat das Konzil von Trient im Dekret Insuper erklärt, dass die Vulgata als »authentisch« gelten soll, und hat so ihre jahrhundertelange Verwendung in der Kirche gewürdigt und ihren Wert als Werkzeug für das Studium, die Predigt und die öffentlichen Disputationen bezeugt. Es war jedoch nicht sein Bestreben, die Bedeutung der Originalsprachen geringzuschätzen, die Hieronymus immer wieder in Erinnerung gerufen hatte, und schon gar nicht, zukünftige neue Projekte einer Gesamtübersetzung zu verbieten. Der heilige Paul VI. griff die Bestimmung der Väter des Zweiten Vatikanischen Konzils auf und wollte, dass die Arbeiten zur Revision der Vulgata-Übersetzung abgeschlossen und der ganzen Kirche zur Verfügung gestellt werden sollten. So hat der heilige Johannes Paul II. in der Apostolischen Konstitution Scripturarum thesaurus im Jahr 1979 die Editio typica promulgiert, die als Neovulgata bezeichnet wird.

Übersetzung als Inkulturation

Durch seine Übersetzung ist es Hieronymus gelungen, die Bibel in die lateinische Sprache und Kultur zu „inkulturieren“, und sein Wirken ist zum bleibenden Vorbild für die missionarische Tätigkeit der Kirche geworden. Denn »wenn eine Gemeinschaft die Verkündigung des Heils aufnimmt, befruchtet der Heilige Geist ihre Kultur mit der verwandelnden Kraft des Evangeliums« , und so entsteht eine Art Kreislauf: So wie Hieronymus’ Übersetzung der Sprache und der Kultur der lateinischen Klassiker, deren Spuren deutlich sichtbar sind, viel zu verdanken hat, so ist sie selbst mit ihrer Sprache und ihrem symbolischen und bildhaften Inhalt ihrerseits zum kulturschaffenden Element geworden.
HieronymusÌ• Übersetzungswerk lehrt uns, dass die Werte und die positiven Formen jeder Kultur eine Bereicherung für die ganze Kirche darstellen. Die unterschiedlichen Formen, in denen das Wort Gottes bei jeder neuen Übersetzung verkündigt, verstanden und gelebt wird, bereichern die Schrift selbst, denn diese wächst mit dem Leser, wie ein bekanntes Wort Gregors des Großen lautet, und bekommt im Laufe der Jahrhunderte neue Akzente und neue Klänge. Die Aufnahme der Bibel und des Evangeliums in die verschiedenen Kulturen sorgt dafür, dass die Kirche sich immer mehr als »sponsa ornata monilibus suis« (Jes 61,10) zeigt. Und sie bezeugt gleichzeitig, dass die Bibel immer wieder in die sprachlichen und geistigen Kategorien jeder Kultur und jeder Generation übersetzt werden muss, auch in die der globalen säkularisierten Kultur unserer Zeit.
Es ist zu Recht gesagt worden, dass sich eine Analogie zwischen der Übersetzung als Akt sprachlicher Gastfreundschaft und anderen Formen der Gastfreundschaft herstellen lässt. Daher betrifft die Übersetzungsarbeit nicht einzig und allein die Sprache, sondern sie entspricht in Wahrheit einer umfassenderen ethischen Entscheidung, die sich mit der ganzen Weltsicht verbindet. Ohne Übersetzung könnten die verschiedenen sprachlichen Gemeinschaften nicht miteinander kommunizieren; wir würden die Türen der Geschichte voreinander verschließen und die Möglichkeit ausschließen, eine Kultur der Begegnung aufzubauen. Tatsächlich gibt es ohne Übersetzung keine Gastfreundschaft; feindselige Verhaltensweisen würden sich sogar verstärken. Der Übersetzer ist ein Brückenbauer. Wie viele Vorurteile, wie viele Verurteilungen und Konflikte entstehen aus der Tatsache, dass wir die Sprache der anderen nicht kennen und uns nicht mit hartnäckiger Hoffnung um diesen unendlichen Liebesbeweis, die Übersetzung, bemühen!
Auch Hieronymus musste dem vorherrschenden Denken seiner Zeit entgegenwirken. Während in der Anfangszeit des Römischen Reiches Griechisch weithin verstanden wurde, so war dies zu seiner Zeit bereits seltener der Fall. Er war auf jeden Fall einer der besten Kenner der christlichen griechischen Sprache und Literatur und unternahm im Alleingang einen noch schwierigeren Weg, als er sich dem Studium des Hebräischen widmete. Wenn, wie geschrieben wurde, »die Grenzen meiner Sprache die Grenzen meiner Welt bedeuten« , dann können wir sagen, dass wir der Vielsprachigkeit des heiligen Hieronymus ein universaleres Verständnis des Christentums verdanken, das gleichzeitig seinen Quellen besser entspricht.
Mit der feierlichen Begehung des Todestages des heiligen Hieronymus richtet sich der Blick auf die außerordentliche missionarische Kraft, die durch die Übersetzung des Wortes Gottes in über dreitausend Sprachen zum Ausdruck kommt. Vielen Missionaren ist das kostbare Werk der Veröffentlichung von Grammatiken, Wörterbüchern und anderen sprachlichen Hilfsmitteln zu verdanken, die die Grundlagen für die menschliche Kommunikation bieten und ein Mittel sind für den »missionarischen Traum, alle zu erreichen«. Es ist notwendig, diese ganze Arbeit zu würdigen und weiter zu verfolgen, um so zur Überwindung der Grenzen mangelnder Kommunikation und Begegnung beizutragen. Es gibt noch viel zu tun. Wie jemand gesagt hat, gibt es kein Verstehen ohne Übersetzung: Wir würden weder uns selbst noch die anderen verstehen.

Hieronymus und der Stuhl Petri

Hieronymus hatte immer eine besondere Beziehung zur Stadt Rom: Rom ist der geistliche Hafen, zu dem er immer wieder zurückkehrt; in Rom wurde der Humanist ausgebildet und der Christ geprägt; er ist ein homo romanus. Diese Bindung geschieht auf ganz besondere Weise in der Sprache der Stadt, dem Lateinischen, deren Meister und Förderer er gewesen ist, aber vor allem ist er mit der Kirche von Rom und insbesondere mit dem Stuhl Petri verbunden. Die ikonografische Tradition hat ihn anachronistisch mit dem Kardinalspurpur dargestellt, um auf seine Zugehörigkeit zum Presbyterium von Rom an der Seite von Papst Damasus hinzuweisen. In Rom begann er mit der Revision der Übersetzung. Und auch als Neid und Unverständnis ihn zwangen, die Stadt Rom zu verlassen, ist er immer eng mit dem Stuhl Petri verbunden geblieben.
Für Hieronymus ist die Kirche von Rom der fruchtbare Boden, wo der Same Christi reiche Frucht trägt. In einer unruhigen Zeit, in der das nahtlose Gewand der Kirche oft von Spaltungen zwischen den Christen zerrissen ist, blickt Hieronymus auf den Stuhl Petri als sicheren Bezugspunkt: »Wie ich außer Christus keinem nachfolge, so fühle ich mich mit dem Stuhle Petri in Glaubensgemeinschaft verbunden. Weiß ich doch sehr gut, dass die Kirche Christi auf diesen Felsen gebaut ist.« Mitten in der Auseinandersetzung mit den Arianern schreibt er an Damasus: »Wer nicht mit dir sammelt, der zerstreut. Wer es nicht mit Christus hält, der hält es mit dem Antichrist.« Daher kann er auch sagen: »Zu mir gehört, wer mit dem Stuhle Petri in kirchlicher Gemeinschaft steht!«
Hieronymus war oft in erbitterte Auseinandersetzungen um den Glauben verwickelt. Vielleicht ließen seine Wahrheitsliebe und die glühende Verteidigung Christi ihn in seinen Briefen und Schriften mit heftigen Worten über das Ziel hinausschießen. Sein Leben war jedoch auf den Frieden ausgerichtet: »Auch wir wünschen den Frieden, ja wir wünschen ihn nicht bloß, sondern wir bitten darum. Aber um den Frieden Christi bitten wir, um den wahren Frieden, um einen Frieden ohne Feindseligkeit, um einen Frieden, der nicht den Kriegskeim in sich birgt, um einen Frieden, der nicht Gegner unterjocht, sondern in Freundschaft vereinigt.«
Unsere Welt braucht mehr denn je das Heilmittel der Barmherzigkeit und der Gemeinschaft. Gestattet mir, noch einmal zu wiederholen: Geben wir ein Zeugnis des brüderlichen Miteinanders, das anziehend und erhellend wird. »Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt« (Joh 13,35). Es ist das, worum Jesus den Vater inständig gebeten hat: »Alle sollen eins sein […] in uns […], damit die Welt glaubt« (Joh 17,21).

Lieben, was Hieronymus geliebt hat

Zum Abschluss dieses Schreibens möchte ich einen weiteren Aufruf an alle richten. Dem heiligen Hieronymus wurde von der Nachwelt viel Lob gezollt. So gilt er nicht nur als einer der größten Förderer der „Bibliothek“, aus der sich das Christentum die Zeit hindurch nährt – angefangen beim Schatz der Heiligen Schriften –, sondern auf ihn lässt sich auch das anwenden, was er selbst über Nepotian geschrieben hat: »Durch fleißige Lesung und tägliche Betrachtung machte er aus seinem Herzen eine Bibliothek Christi.« Hieronymus scheute keine Mühen, die eigene Bibliothek zu bereichern, in der er stets ein unverzichtbares Laboratorium für das Verständnis des Glaubens und das geistliche Leben sah; und darin ist er ein wunderbares Vorbild auch für die Gegenwart. Er ging aber noch darüber hinaus. Das Studium blieb für ihn nicht auf die Ausbildungsjahre in seiner Jugend beschränkt, sondern es war eine ständige Verpflichtung, eine tägliche Priorität seines Lebens. Außerdem können wir sagen, dass er eine ganze Bibliothek in sich aufnahm und ein Wissensquell für viele andere war. Als Postumianus im 4. Jahrhundert den Orient bereiste, um monastische Bewegungen kennenzulernen, wurde er Augenzeuge von Hieronymus’ Lebensstil. Er hielt sich einige Monate bei ihm auf und beschrieb ihn folgendermaßen: »Immer ist er am Lesen, immer mit Büchern beschäftigt; weder bei Tag noch bei Nacht gönnt er sich Ruhe, immer liest oder schreibt er etwas.«
Ich denke in diesem Zusammenhang oft an die Erfahrung, die ein junger Mensch heute machen kann, wenn er eine Buchhandlung seiner Stadt betritt oder eine Website besucht und dort die Abteilung der religiösen Bücher sucht. Wenn eine solche Abteilung vorhanden ist, dann nimmt sie in den meisten Fällen nicht nur einen marginalen Platz ein, sondern enthält auch keine gehaltvollen Werke. Beim Stöbern in diesen Regalen oder Internetseiten mag ein junger Mensch kaum verstehen, dass die religiöse Suche ein begeisterndes Abenteuer sein kann, das Verstand und Herz gleichermaßen betrifft; dass das Verlangen nach Gott in allen Jahrhunderten bis heute große Geister entflammt hat; dass das Heranreifen des geistlichen Lebens Theologen und Philosophen, Künstler und Dichter, Historiker und Wissenschaftler angesteckt hat. Eines der Probleme der heutigen Zeit, nicht nur in der Religion, ist der Analphabetismus: Es mangelt an hermeneutischen Fähigkeiten, die uns zu glaubwürdigen Auslegern und Übersetzern unserer eigenen kulturellen Tradition machen. Besonders die jungen Menschen möchte ich gerne auffordern: Macht euch auf die Suche nach eurem Erbe. Das Christentum macht euch zu Erben eines unübertrefflichen kulturellen Schatzes, den ihr euch zu eigen machen solltet. Begeistert euch für diese Geschichte, sie ist die eure. Wagt es, den Blick fest auf jenen unruhigen jungen Hieronymus zu richten, der wie der Mann aus dem Gleichnis Jesu alles verkaufte, was er besaß, um die »besonders wertvolle Perle« zu kaufen (Mt 13,46).
Hieronymus ist wirklich die „Bibliothek Christi“: eine immerwährende Bibliothek, die auch uns nach 16 Jahrhunderten weiterhin lehrt, was die Liebe Christi bedeutet – eine Liebe, die sich nicht trennen lässt von der Begegnung mit seinem Wort. Daher ist das gegenwärtige Jubiläum ein Aufruf, das zu lieben, was Hieronymus geliebt hat, indem wir seine Schriften neu entdecken und uns berühren lassen von der Wirkung einer Spiritualität, die in ihrem wesentlichen Kern beschrieben werden kann als das unruhige und leidenschaftliche Verlangen, den Gott der Offenbarung besser kennenzulernen. Wie sollten wir in unserer heutigen Zeit nicht das hören, wozu Hieronymus seine Zeitgenossen unablässig anspornte: »Lies fleißig in der Heiligen Schrift, nie sollen deine Hände die heilige Lesung beiseitelegen«?
Das leuchtende Vorbild darin ist Maria, die Hieronymus uns vor allem in ihrer jungfräulichen Mutterschaft, aber auch in ihrer Haltung als betende Leserin der Schrift vor Augen stellt. Maria erwog die Worte in ihrem Herzen (vgl. Lk 2,19; 3,15), und »weil sie heilig war und die heiligen Schriften gelesen hatte und mit den Propheten vertraut war, da erinnerte sie sich, dass der Engel Gabriel zu ihr gesprochen hatte, was sich bei den Propheten geweissagt findet. […] Sie sah den Knaben daliegen, sie sah den Knaben in der Krippe weinen, sie sah den Sohn Gottes vor sich liegen, ihren Sohn, ihren einzigen Sohn. Wie sie ihn da liegen sah, verglich sie, was sie gehört hatte, mit dem, was sie gelesen hatte und was sie persönlich wahrnahm.« Ihr wollen wir uns anvertrauen. Sie kann uns am besten lehren, Gottes Wort zu lesen und zu meditieren, zu Gott zu beten und ihn zu betrachten, der sich in unserem Leben unermüdlich gegenwärtig macht.

Gegeben zu Rom, bei St. Johannes im Lateran, am 30. September, dem Gedenktag des heiligen Hieronymus, im Jahr 2020, dem achten meines Pontifikats - 

Franziskus

(vatican news - sk)

 

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30. September 2020, 13:16