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Johannes Paul betet 1978 in der Vatikan-Pfarrkirche Sant'Anna Johannes Paul betet 1978 in der Vatikan-Pfarrkirche Sant'Anna 

Radio-Akademie: 100 Jahre Johannes Paul II. (4)

Die letzten Jahre Johannes Pauls sind lang. So fulminant sein Start ins Amt war, so sehr zieht sich die zweite Hälfte des Pontifikats in die Länge, in der er den „Lehrstuhl des Alters“ besteigt – eine Formulierung seines Nachfolgers Benedikt.

Stefan von Kempis – Vatikanstadt

Aus dem strahlenden, die ganze Welt umarmenden „John Paul Superstar“ wird der kranke, gebeugte Papst. Der trotzdem von seiner Mission nicht lässt. Man sieht ihm die Anstrengung an, immer mehr. Zitternde Hände, eine immer unverständlicher werdende Stimme, schmerzverzerrte Züge.

Wo die Zäsur liegt in diesem Pontifikat? Nehmen wir den Mauerfall von 1989. Johannes Paul, der Systemsprenger, hat recht behalten, die Freiheit siegt. Aber er triumphiert nicht, sondern wird zum Mahner.

Am Brandenburger Tor
Am Brandenburger Tor

In Berlin: Plädoyer für die Freiheit

1996. Der polnische Papst durchschreitet das Brandenburger Tor in Berlin. An seiner Seite, riesenhaft, Helmut Kohl, der den Moment genießt. Polizisten riegeln den Gast aus Rom von (einigermaßen respektlosen) Gegendemonstranten ab. Johannes Paul hält in der Dämmerung ein Plädoyer für die Freiheit.

„Der Mensch ist zur Freiheit berufen. Freiheit bedeutet nicht das Recht zur Beliebigkeit. Freiheit ist kein Freibrief! Wer aus der Freiheit einen Freibrief macht, hat der Freiheit bereits den Todesstoß versetzt. Der freie Mensch ist vielmehr der Wahrheit verpflichtet. Sonst hat seine Freiheit keinen festeren Bestand als ein schöner Traum, der beim Erwachen zerbricht.“

1989 mit dem sowjetischen Staats- und Parteichef Gorbatschow, wenige Tage nach dem Mauerfall
1989 mit dem sowjetischen Staats- und Parteichef Gorbatschow, wenige Tage nach dem Mauerfall

„Haltet dieses Tor geöffnet!“

Sie verlange „einen hohen Preis“, die Freiheit. Europa brauche „ein freies Berlin und ein freies Deutschland“, aber „vor allem die Luft zum Atmen, geöffnete Fenster“. „Den Berlinern und allen Deutschen, denen ich dankbar bin für die friedliche Revolution des Geistes, die zur Öffnung dieses Brandenburger Tores führte, rufe ich zu: Löscht den Geist nicht aus! Haltet dieses Tor geöffnet für euch und alle Menschen! … Haltet das Tor offen durch die Öffnung eurer Herzen!“

Seid offen für Europa – das Europa, das mit beiden Lungenflügeln atmet, Ost und West: Um diese Entente im „neuen Haus Europa“ wirbt Karol Wojtyla. Schon 1981 hat der Mann, der während der deutschen Besatzung Polens in einer Krakauer Chemiefabrik schuften musste, in einer Enzyklika Kapitalismus und Materialismus scharf verdammt; jetzt fürchtet er nach dem Fall des Eisernen Vorhangs einen Durchmarsch des Neo-Liberalismus. Viele wundern sich, dass sich der Antikommunist im Vatikan jetzt als Antikapitalist entpuppt.

Hier können Sie einen Ausschnitt aus dem 4. Teil unserer Serie hören.
Foto: Kempis
Foto: Kempis

Streitschrift für das Leben: Evangelium vitae

Und er warnt, mit dem Gestus des Propheten, vor einer „Kultur des Todes“. Mit seiner Enzyklika „Evangelium vitae“, Evangelium des Lebens, tritt er 1995 für die „Kultur des Lebens“ ein; das „Time“-Magazin erklärt ihn deswegen zum „Mann des Jahres“. In der Streitschrift führt er aus, was er in den achtziger Jahren, bei einem Besuch in Österreich, einmal so formuliert hat:

„Es darf keine Einteilung des menschlichen Lebens in lebenswertes und unwertes Leben geben! Diese Einteilung hat vor Jahrzehnten in die schlimmste Barbarei geführt. Jedes menschliche Leben – ob schon geboren oder nicht, ob voll entfaltet oder in seiner Entwicklung behindert – jedes menschliche Leben ist von Gott mit einer Würde ausgestattet, an der sich niemand vergreifen darf. Jeder Mensch ist Bild Gottes!”

Foto: Kempis
Foto: Kempis

Der Papst bemüht sich nach 1989, den Ländern im Osten Europas – auch seiner polnischen Heimat – auf dem Weg in die Europäische Gemeinschaft (heute: EU) zu helfen. Er streckt Fühler zur orthodoxen Kirche aus, eine Begegnung mit dem russisch-orthodoxen Patriarchen kommt allerdings nie zustande. Das liegt auch daran, dass Johannes Paul in der zerfallenen Sowjetunion, auch in Russland, katholische Bistümer errichtet, gegen orthodoxen Widerstand.

Historischer Brückenschlag zu orthodoxen Christen

1999: Johannes Paul in Rumänien. Zum ersten Mal überhaupt seit dem Schisma von 1054 besucht ein Papst ein mehrheitlich orthodoxes Land. Patriarch Teoktist hat ihn eingeladen – ein historischer Schritt. Beide Kirchenführer nehmen an einer Liturgie der jeweils anderen Konfession teil, auch das ist ein ökumenischer Mauerfall. Die Friedenssignale wecken Wut in Moskau – und Bitterkeit bei vielen „griechischen“ Katholiken in Rumänien, die noch unlängst unterdrückt worden sind. Doch bei der Eucharistiefeier, die der Papst in Anwesenheit des Patriarchen in Bukarest zelebriert, wird aus der Menge, ca. 200.000 Menschen, auf einmal der Ruf „Unidade“ skandiert: „Einheit“.

Mit Patriarch Teoktist in Bukarest
Mit Patriarch Teoktist in Bukarest

„Ich wende mich an alle Christgläubigen, die in Rumänien leben. Ich spüre eine Sehnsucht nach echter Einheit und den Wunsch, in dieser Hinsicht das Petrusamt, das mir anvertraut wurde, auszuüben… Wenn es in der Vergangenheit Unverständnis und leider auch Spaltungen im mystischen Leib Christi gegeben hat, ist doch das Wissen um das, was alle Christen gemeinsam haben, erhalten geblieben. Am Ende des zweiten Jahrtausends beginnen die Wege, die auseinandergegangen waren, sich wieder einander anzunähern.“

„In der Werkstatt der Ökumene“

„Es war eine historische Reise“: So lautet das Resümee des Papstes. „Zum erstenmal kam ich in ein Land, in dem vorwiegend orthodoxe Christen leben.“ Das sei wie der Besuch in einer „Werkstatt der Ökumene“ gewesen. „Ich habe vor Ort erleben dürfen, was es bedeutet, wenn Christen mit beiden Lungen atmen. Zugleich spürte ich, daß gerade die Ökumene das Petrusamt als Dienst an der Einheit braucht…“

Der Papst hörte den Schrei nach Einheit
Der Papst hörte den Schrei nach Einheit

Beispielloser Bußakt im Heiligen Jahr 2000

Seit den Tagen von Bukarest ist Johannes Paul immer mehr davon überzeugt, dass die katholische Kirche beim Eintritt ins neue Jahrtausend historischen Ballast abwerfen, ihr „Gedächtnis reinigen“ muss. Viele in der Kurie versuchen, ihn von einem großen Mea Culpa für die Sünden von Katholiken im Lauf der Geschichte abzubringen. Doch der Papst setzt sich durch – und wählt die große Bühne, nämlich das Heilige Jahr 2000, für den Bußakt.

„Erbarme dich deiner sündigen Kinder…“

Auf Bitten des Papstes verliest Kardinal Ratzinger, Präfekt der Glaubenskongregation, in St. Peter eine von sieben großen Vergebungsbitten. „Lass jeden von uns zur Einsicht gelangen, dass auch Menschen der Kirche im Namen des Glaubens und der Moral … mitunter auf Methoden zurückgegriffen haben, die dem Evangelium nicht entsprechen.“ – Johannes Paul: „Herr, du bist der Gott aller Menschen. In manchen Zeiten der Geschichte haben die Christen bisweilen Methoden der Intoleranz zugelassen. Indem sie dem großem Gebot der Liebe nicht folgten, haben sie das Antlitz der Kirche, deiner Braut, entstellt. Erbarme dich deiner sündigen Kinder…“

Foto: Kempis
Foto: Kempis

Am liebsten würde der alte Papst, was das 3. Jahrtausend betrifft, eine „Reset“-Taste drücken. Sein Blick auf die Welt ist, wie er bei einem Besuch in Fatima durchblicken lässt, tiefschwarz grundiert.

„Es ist schwer, in einer solchen Welt zu glauben“

„Wie viele Opfer während des letzten Jahrhunderts des zweiten Jahrtausends! Es kommen einem die Schrecken des Ersten und Zweiten Weltkriegs und vieler anderer Kriege in so vielen Teilen der Welt in den Sinn, die Konzentrations- und Vernichtungslager, die Gulags, die ethnischen Säuberungen und die Verfolgungen, der Terrorismus, die Entführung von Menschen, die Drogen, die Angriffe gegen die Ungeborenen und die Familie.“

„Ist es schwer, in einer solchen Welt zu glauben?“, fragt Johannes Paul bei einer anderen Gelegenheit im Heiligen Jahr, während des Weltjugendtags in Rom. „Ist das Glauben schwer im Jahr 2000?“ Und er gibt selbst die Antwort. „In der Tat: Es ist schwer. Das darf man nicht verschweigen. Es ist schwer, aber mit der Gnade Gottes ist es möglich.“ Es ist einer der wenigen Momente, in dem dieser polnische Petrus, dieser „Fels“, einen Anflug von Anfechtung, von Zweifel spüren lässt.

Der Papst bei einem Ausflug in die Berge mit seinem Privatsekretär Dziwisz
Der Papst bei einem Ausflug in die Berge mit seinem Privatsekretär Dziwisz

Aufbäumen gegen den Irak-Krieg

Mit dem Terror des 11. September 2001 startet auch das neue Jahrtausend blutig. Als US-Präsident Bush einen Einmarsch im Irak Saddam Husseins plant, lässt Johannes Paul alle diplomatische Rücksicht fahren, warnt eindringlich vor dem Krieg, wird zu einer Art spirituellem Anführer von Friedensdemonstrationen in allen westlichen Hauptstädten. „Es ist noch Zeit zum Verhandeln; es gibt noch Raum für den Frieden!“

Den Menschen auf dem Petersplatz gegenüber, unter ihnen viele mit Friedens-Regenbogenfahnen, macht der Papst aus seinem Herzen keine Mördergrube. Sein Redemanuskript legt er beiseite.

„Nie wieder Krieg!“

„Ich gehöre der Generation an, die den Zweiten Weltkrieg erlebt und überlebt hat, und habe daher die Pflicht, allen jungen Menschen, all jenen, die jünger sind als ich und diese Erfahrung nicht gemacht haben, zu sagen: Nie wieder Krieg! … Wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun! Wir wissen sehr wohl, dass ein Friede um jeden Preis nicht möglich ist. Aber wir wissen auch, wie groß diese Verantwortung ist. Deshalb bedarf es des Gebets und der Buße!“

Es ist der letzte welthistorische Auftritt des Karol Wojtyla. Sein langes Sterben beginnt.

2001 mit dem früheren US-Präsidenten Bush
2001 mit dem früheren US-Präsidenten Bush

*

Ein Papst stirbt

„Jetzt gerade bekommen wir die Nachricht, dass der Papst gestorben ist. Wie lautet die Quelle?“ Es ist der Abend des 2. April 2005, Millionen Menschen verfolgen die Sondersendung des Star-Moderators Bruno Vespa im italienischen Fernsehen. Seit Tagen schon liegt der polnische Papst im Sterben, jetzt meldet die Nachrichtenagentur Ansa seinen Tod.

„Der Papst ist tot. Ich bitte Sie, aufzustehen für einen Moment der Sammlung, und wenn Sie gläubig sind, für einen Moment des Gebets.“

„Ins Haus des Vaters zurückgekehrt“

Während er oben in seinem Bett im Apostolischen Palast starb, fand unten auf dem Petersplatz eine Gebetsvigil statt. Auf einmal, gegen 22 Uhr, trat Kurienerzbischof Sandri ans Mikro. „Liebe Brüder und Schwestern, um 21.37 Uhr ist unser geliebter Heiliger Vater Johannes Paul II. ins Haus des Vaters zurueckgekehrt. Beten wir für ihn.“

„Jetzt ist das Licht im privaten Zimmer des Papstes angegangen“, berichtet ein Live-Reporter vom Petersplatz. „Das ist das Signal. Es hat hier auf dem Platz eine Minute des Schweigens gegeben, dann hat ein Kardinal gesagt: Begleiten wir Johannes Paul II. auf seinem Weg.“ Das Gebet geht weiter.

Undatierte Aufnahme
Undatierte Aufnahme

Stummer Abschied

Rückblende. Im März 2005 hatte der todkranke Papst in der römischen Gemelli-Klinik gelegen. Dort setzte man ihm einen Luftröhrenschnitt. Zum Angelusgebet zeigte er sich am Fenster, sprechen konnte er kaum noch.

Zum Sterben kehrte Johannes Paul in den Vatikan zurück. Im Papamobil fuhr er ein letztes Mal durch Rom, über den Petersplatz. Sein Abschied. In den Tagen vor seinem Tod zeigt er sich nur noch manchmal an seinem Fenster, macht eine Geste zwischen Segnen und Hilflosigkeit.

Am 1. April kann sich Kardinal Angelo Comastri, Erzpriester von Sankt Peter, bei ihm verabschieden. Der Privatsekretär des Papstes, Stanislaw Dziwisz, bringt ihn zum Sterbenden.

„Der Blick eines glücklichen Menschen“

„Er neigte den Kopf und lehnte ihn auf das Bett des Papstes. Dann berührte Don Stanislaw die Schulter des Papstes – der hatte die Augen geschlossen – und sagte ihm: Heilger Vater, Loreto ist da! – Ich kam nämlich gerade aus Loreto. Ich sehe noch den Papst vor mir, wie er die Augen öffnete, mich ansah und mühsam sagte: Nein, Sankt Peter. – Da merkte ich, dass er völlig wach war. Ich sagte ihm: Heiliger Vater, segnen Sie mich! Er hob einen Moment die rechte Hand, sie fiel ihm herunter. Ich sagte: Das reicht mir, Heiliger Vater, das ist mir ein wertvolles Andenken an Sie… Ich sehe ihn noch vor mir – wie er mich ansah. Der Blick eines glücklichen Menschen. Das ist meine letzte Erinnerung an Johannes Paul II.”

Über dem nächtlichen Petersplatz läutet die Totenglocke. Der langjährige Pressesprecher Johannes Pauls, Joaquin Navarro-Valls, bestätigt den Journalisten den Tod des Papstes. 26 Jahre – eines der längsten Pontifikate in der Kirchengeschichte ist zu Ende.

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Auf Wiedersehen, Johannes Paul!
Auf Wiedersehen, Johannes Paul!

 

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01. Mai 2020, 08:47