Im Wortlaut: Weihnachtsansprache des Papstes an die Kurie
»Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt« (Joh 1,14).
Liebe Brüder und Schwestern,
euch allen ein herzliches Willkommen. Ich danke Kardinal Angelo Sodano für die Worte, die er an mich gerichtet hat. Vor allem möchte ich ihm, auch im Namen der Mitglieder des Kardinalskollegiums, meine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen für den wertvollen und sorgfältigen Dienst, den er als Dekan über lange Jahre bereitwillig, hingebungsvoll, wirksam und mit großem Organisations- und Koordinationstalent ausgeübt hat. Danke von Herzen, Eminenz!
Euch hier Anwesenden, euren Mitarbeitern und allen, die in der Kurie Dienst tun, wie auch den Päpstlichen Repräsentanten und allen, die ihnen zur Seite stehen, wünsche ich ein gesegnetes und frohes Weihnachtsfest. Und neben den Glückwünschen spreche ich meine Anerkennung für die tägliche Hingabe aus, mit der ihr den Dienst an der Kirche leistet. Vielen Dank!
Auch dieses Jahr gibt uns der Herr die Gelegenheit, für diese Geste der Gemeinschaft zusammenzukommen, die unsere brüderliche Verbundenheit stärkt und in der Betrachtung der Liebe Gottes wurzelt, die sich an Weihnachten geoffenbart hat. Tatsächlich, so hat ein Mystiker unserer Zeit geschrieben, »ist die Geburt Christi das stärkste und aussagekräftigste Zeugnis dafür, wie sehr Gott den Menschen geliebt hat. Er hat ihn mit einer persönlichen Liebe geliebt. Deshalb hat er einen menschlichen Leib angenommen, hat sich mit ihm vereint und für immer angeeignet. Die Geburt Christi ist selbst ein „Liebesbund“, der für immer zwischen Gott und dem Menschen geschlossen wurde« . Und der heilige Clemens von Alexandrien schreibt: »Deshalb ist er [Christus] auch selbst herabgekommen, deshalb hat er menschliche Gestalt angenommen, deshalb hat er aus freiem Willen Menschenschicksal ertragen, damit er, nachdem er aus Liebe zu uns sich dem Maß unserer Schwachheit hat angleichen lassen, umgekehrt uns dem Maß seiner eigenen Macht angleiche« .
In Anbetracht von so viel Wohlwollen und Liebe ist der Austausch der Weihnachtsglückwünsche ebenso eine Gelegenheit, um sein Gebot neu aufzunehmen: »Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt« (Joh 13,34-35). Hier bittet uns Jesus nämlich nicht, ihn in Antwort auf seine Liebe zu uns zu lieben; er verlangt von uns vielmehr, einander mit eben seiner Liebe zu lieben. Mit anderen Worten, er ersucht uns, ihm ähnlich zu sein, weil er selbst sich uns ähnlich gemacht hat. Weihnachten, so ruft uns der heilige Kardinal Newman auf, möge also »uns ihm, der zu dieser Zeit um unseretwillen ein kleines Kind wurde, mehr und mehr ähnlich finden, schlichter also und demütiger, heiliger, liebevoller, ergebener, glücklicher, gotterfüllter« . Und er fügt hinzu: »[Weihnachten] ist eine Zeit der Unschuld, der Reinheit, der Sanftmut, der Milde, der Genügsamkeit und des Friedens.«
Der Name Newman erinnert uns auch an eine wohlbekannte Aussage von ihm, fast einen Sinnspruch, aus seinem Werk Über die Entwicklung der christlichen Lehre, das zeitlich und geistlich an der Wegkreuzung seines Eintritts in die katholische Kirche steht. Er sagt dies: »Hier auf der Erde bedeutet leben sich verändern, und die Vollkommenheit ist das Ergebnis vieler Veränderungen.« Es geht freilich nicht darum, die Veränderung um der Veränderung willen zu suchen, oder dem Zeitgeschmack zu folgen, sondern überzeugt davon zu sein, dass Entwicklung und Wachstum das Wesensmerkmal des irdischen und menschlichen Lebens sind, während in der Perspektive des Glaubenden im Mittelpunkt von allem die Beständigkeit Gottes steht .
Für Newman war die Veränderung eine Bekehrung, also eine innere Verwandlung . Das christliche Leben ist in Wirklichkeit ein Weg, eine Pilgerschaft. Die biblische Geschichte ist insgesamt ein Weg, der von Anfängen und erneuten Aufbrüchen gezeichnet ist; so wie für Abram; wie für diejenigen, die sich vor zweitausend Jahren in Galiläa auf den Weg machten, um Jesus zu folgen: »Und sie zogen die Boote an Land, verließen alles und folgten ihm nach« (Lk 5,11). Von da an ist die Geschichte des Volkes Gottes – die Geschichte der Kirche – immer von Aufbrüchen, Umzügen, Veränderungen gekennzeichnet. Der Weg ist natürlich nicht rein geografisch, sondern vor allem symbolisch: Er ist eine Einladung, die Bewegung des Herzens zu entdecken, die es paradoxerweise nötig hat, aufzubrechen, um zu bleiben, sich zu ändern, um treu zu sein .
All dies hat eine besondere Bedeutung in unserer Zeit, denn die Epoche, in der wir leben, ist nicht nur eine Epoche der Veränderungen, sondern die eines Epochenwandels. Wir stehen also an einem der Momente, in denen die Veränderungen nicht mehr linear sind, sondern vielmehr epochal; sie stellen Weichenstellungen dar, die die Art des Lebens, der Beziehungen, der Formung und Kommunikation des Denkens, des Verhältnisses zwischen den menschlichen Generationen und dem Verständnis und der Ausübung von Glauben und Wissenschaft schnell verwandeln. Es geschieht oft, dass man die Veränderung lebt, indem man sich darauf beschränkt, ein neues Kleid zu tragen, aber in Wirklichkeit so bleibt, wie man vorher war. Ich erinnere mich an den rätselhaften Ausdruck, der in einem berühmten italienischen Roman zu lesen ist: »Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, muss sich alles verändern« (Der Leopard von Giuseppe Tomasi di Lampedusa).
Die gesunde Haltung ist vielmehr jene, sich von den Herausforderungen der heutigen Zeit befragen zu lassen und sie mit den Tugenden der Unterscheidung, der parrhesia und der hypomoné aufzugreifen. Die Veränderung würde in diesem Fall ganz anders aussehen: Statt Beiwerk, Kontext oder Vorwand, statt äußerliche Landschaft … würde sie immer menschlicher und auch christlicher. Es wäre immer noch eine äußerliche Veränderung, die aber vom Mittelpunkt des Menschen selbst aus vollzogen wird, also eine anthropologische Umkehr .
Wir müssen Prozesse anstoßen und nicht Räume besetzen: »Gott zeigt sich in einer geschichtsgebundenen Offenbarung, in der Zeit. Die Zeit stößt Prozesse an, der Raum kristallisiert sie. Gott findet sich in der Zeit, in den laufenden Prozessen. Wir brauchen Räume der Machtausübung nicht zu bevorzugen gegenüber Zeiten der Prozesse, selbst wenn sie lange dauern. Wir müssen eher Prozesse in Gang bringen als Räume besetzen. Gott offenbart sich in der Zeit und ist gegenwärtig in den Prozessen der Geschichte. Das erlaubt, Handlungen zu priorisieren, die neue Dynamiken hervorrufen. Es verlangt auch Geduld und Warten« . Von daher werden wir angeregt, die Zeichen der Zeit mit den Augen des Glaubens zu lesen, damit die Richtung dieser Veränderung »neue und alte Fragen aufwirft, angesichts derer eine Auseinandersetzung berechtigt und notwendig ist« .
Wenn ich heute auf das Thema der Veränderung eingehe, die vor allem auf die Treue zum depositum fidei und zur Tradition gründet, möchte ich auf die Umsetzung der Reform der römischen Kurie zurückkehren und dabei bekräftigen, dass sich diese Reform niemals angemaßt hat, so zu tun, also ob vorher nichts existiert hätte; im Gegenteil, man hat darauf abgezielt, all das Gute zu würdigen, das in der komplexen Geschichte der Kurie getan worden ist. Wir müssen ihre Geschichte würdigen, um eine Zukunft aufzubauen, die feste Grundlagen hat, die Wurzeln besitzt und deshalb Frucht tragen kann. Sich auf die Erinnerung berufen heißt nicht, sich an der Selbstbewahrung festzuklammern, sondern auf das Leben und die Lebendigkeit eines Weges in ständiger Entwicklung hinzuweisen. Die Erinnerung ist nicht statisch, sie ist dynamisch. Sie bringt von Natur aus Bewegung mit sich.
Liebe Brüder und Schwestern,
bei unseren letzten vorweihnachtlichen Begegnungen habe ich zu euch über die Kriterien gesprochen, die diese Reformbemühungen inspiriert haben. Ich habe auch einige Maßnahmen angeregt, die bereits entweder endgültig oder auch ad experimentum umgesetzt wurden. Im Jahr 2017 habe ich einige Neuigkeiten bezüglich der Organisation der Kurie hervorgehoben, wie z.B. die Dritte Sektion des Staatssekretariats oder die Beziehungen zwischen der Römischen Kurie und den Teilkirchen, auch im Blick auf die übliche Praxis der Ad-limina-Besuche oder auf die Struktur einiger Dikasterien, vor allem der Dikasterien für die Orientalischen Kirchen, für den ökumenischen und interreligiösen Dialog, insbesondere mit dem Judentum.
Bei der heutigen Begegnung möchte ich auf einige andere Dikasterien näher eingehen und dabei vom Kern der Reform ausgehen, das heißt von der ersten und wichtigsten Aufgabe der Kirche: die Evangelisierung. Der heilige Paul VI. sagte: »Evangelisieren ist in der Tat die Gnade und eigentliche Berufung der Kirche, ihre tiefste Identität. Sie ist da, um zu evangelisieren.« Tatsächlich besteht das Ziel der gegenwärtigen Reform darin, dass »die Gewohnheiten, die Stile, die Zeitpläne, der Sprachgebrauch und jede kirchliche Struktur ein Kanal werden, der mehr der Evangelisierung der heutigen Welt als der Selbstbewahrung dient. Die Reform der Strukturen, die für eine pastorale Neuausrichtung erforderlich ist, kann nur in diesem Sinne verstanden werden: dafür zu sorgen, dass sie alle missionarischer werden« (Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 27). Und so kam es, in Anlehnung gerade an das Lehramt der Nachfolger Petri vom Zweiten Vatikanischen Konzil bis heute, zu dem vorgeschlagenen Titel Praedicate Evangelium für die zu erstellende neue Apostolische Konstitution über die Reform der Römischen Kurie.
Deshalb also richte ich meine Gedanken heute auf einige der Dikasterien der Römischen Kurie, die schon von ihrer Bezeichnung her einen ausdrücklichen Bezug dazu haben: die Kongregation für die Glaubenslehre und die Kongregation für die Evangelisierung der Völker; ich denke aber auch an das Dikasterium für die Kommunikation und das Dikasterium für den Dienst zugunsten der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen.
Die beiden erstgenannten Kongregationen wurden zu einer Zeit gegründet, in der es einfacher war, zwischen zwei ziemlich klar abgegrenzten Bereichen zu unterscheiden: einer christlichen Welt auf der einen Seite und einer noch zu evangelisierenden Welt auf der anderen. Diese Situation gehört jedoch der Vergangenheit an. Menschen, denen das Evangelium noch nicht verkündigt worden ist, leben keineswegs nur in den nicht-westlichen Kontinenten, sondern überall, vor allem in den riesigen städtischen Ballungszentren, die ihrerseits eine besondere Seelsorge erfordern. In den Großstädten brauchen wir andere „Landkarten“, andere Paradigmen, die uns helfen, unsere Denkweisen und Grundeinstellungen neu auszurichten: Wir haben keine christliche Leitkultur, es gibt keine mehr! Wir sind heute nicht mehr die Einzigen, die Kultur prägen, und wir sind weder die ersten noch die, denen am meisten Gehör geschenkt wird. Wir brauchen daher einen Wandel im pastoralen Denken, was freilich nicht heißt, zu einer relativistischen Pastoral überzugehen. Das Christentum ist keine dominante Größe mehr, denn der Glaube – vor allem in Europa, aber auch im Großteil des Westens – stellt keine selbstverständliche Voraussetzung des allgemeinen Lebens mehr dar, sondern wird oft sogar geleugnet, belächelt, an den Rand gedrängt und lächerlich gemacht.
Dies hat Benedikt XVI. hervorgehoben, als er zur Ausrufung des Jahres des Glaubens (2012) schrieb: »Während es in der Vergangenheit möglich war, ein einheitliches kulturelles Gewebe zu erkennen, das in seinem Verweis auf die Glaubensinhalte und die von ihnen inspirierten Werte weithin angenommen wurde, scheint es heute in großen Teilen der Gesellschaft aufgrund einer tiefen Glaubenskrise, die viele Menschen befallen hat, nicht mehr so zu sein.« . Deshalb wurde im Jahr 2010 der Päpstliche Rat zur Förderung der Neuevangelisierung gegründet, um »in jenen Ländern eine neue Evangelisierung voranzutreiben, wo zwar schon eine erste Verkündigung des Glaubens erfolgte und es Kirchen alter Gründung gibt, die aber eine fortschreitende Säkularisierung der Gesellschaft und eine Art „Finsternis des Sinnes für Gott“ erleben. Diese Herausforderung drängt uns, geeignete Mittel zu finden, um die immerwährende Wahrheit des Evangeliums Christi erneut vorschlagen zu können.«
Die Wahrnehmung, dass der Epochenwandel ernsthafte Fragen hinsichtlich der Identität unseres Glaubens aufwirft, ist, offen gestanden, nicht plötzlich eingetreten. In diesen Rahmen fügt sich auch der vom heiligen Johannes Paul II. übernommene Begriff „Neuevangelisierung“ ein. In seiner Enzyklika Redemptoris missio schrieb er: »Heute sieht die Kirche sich mit anderen Herausforderungen konfrontiert; sie muss zu neuen Ufern aufbrechen, sei es in ihrer Erstmission ad gentes, sei es in der Neuevangelisierung von Völkern, die die Botschaft von Christus schon erhalten haben« (Nr. 30). Es braucht eine neue Evangelisierung oder eine Wieder-Evangelisierung (vgl. Nr. 33).
All dies führt zwangsläufig zu Veränderungen und neuen Schwerpunkten in den oben genannten Dikasterien sowie in der gesamten Kurie.
Ich möchte nun auch einige Überlegungen bezüglich des kürzlich errichteten Dikasteriums für die Kommunikation anstellen. Wir erleben einen Epochenwandel, denn »für breite Schichten der Menschheit ist es normal, ständig in die digitale Welt abzutauchen. Hier geht es nicht mehr nur darum, Kommunikationsmittel zu „nutzen“, sondern man lebt in einer durch und durch digitalisierten Kultur, die sich stark auf die Vorstellung von Zeit und Raum auswirkt sowie auf die Wahrnehmung von sich selbst, von anderen und der Welt, auf die Art zu kommunizieren, zu lernen, sich zu informieren und Beziehungen zu anderen zu knüpfen. Eine Einstellung gegenüber der Realität, bei der tendenziell Bilder wichtiger sind als das Zuhören und Lesen und die beeinflusst, wie wir lernen und kritisches Denken entwickeln« (Nachsynodales Apostolisches Schreiben Christus vivit, 86).
Das Dikasterium für die Kommunikation wurde daher mit der Aufgabe betraut, die neun Einrichtungen, die sich bisher auf verschiedene Weise und mit unterschiedlichen Aufgaben mit der Kommunikation befassten, in einer neuen Institution zusammenzuführen. Es sind dies der Päpstliche Rat für die sozialen Kommunikationsmittel, das Presseamt des Heiligen Stuhls, die Vatikanische Druckerei, die Vatikanische Verlagsbuchhandlung, der L’Osservatore Romano, Radio Vatikan, das Vatikanische Fernsehzentrum, der Vatikanische Internetdienst und der Fotodienst. Im Sinne des Gesagten ging es bei dieser Zusammenlegung jedoch nicht um eine einfache „koordinierende“ Umgestaltung, sondern darum, die verschiedenen Komponenten aufeinander abzustimmen, um ein besseres Dienstleistungsangebot zu erzielen.
Die neue Kultur, die von Konvergenz und multimedialen Faktoren geprägt ist, erfordert von Seiten des Apostolischen Stuhls eine angemessene Antwort im Bereich der Kommunikation. Im Vergleich zu spezialisierten Diensten überwiegt heute die multimediale Form, und das prägt auch die Art und Weise, wie diese dann konzipiert, gedacht und umgesetzt werden. All dies impliziert, zusammen mit dem kulturellen Wandel, eine institutionelle und personelle Neuausrichtung von einer Arbeit in getrennten Abteilungen – die bestenfalls ein wenig koordiniert war – zu einer Arbeit, die wesentlich und synergetisch miteinander verbunden ist.
Liebe Brüder und Schwestern,
vieles des bisher Gesagten gilt grundsätzlich auch für das Dikasterium für den Dienst zugunsten der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen. Auch dieses wurde kürzlich errichtet, um auf die Veränderungen auf globaler Ebene zu reagieren. Dabei wurden vier frühere Päpstliche Räte zusammengelegt: die Räte für Gerechtigkeit und Frieden, Cor Unum, für die Seelsorge für die Migranten sowie für die Pastoral im Krankendienst. Der Zusammenhang der diesem Dikasterium übertragenen Aufgaben wird zu Beginn des Motu proprio Humanam progressionem, mit dem es errichtet wurde, kurz erwähnt: »Mit ihrem ganzen Sein und in all ihrem Handeln ist die Kirche gerufen, die ganzheitliche Entwicklung des Menschen im Licht des Evangeliums zu fördern. Diese Entwicklung wird durch die Pflege der unermesslichen Güter der Gerechtigkeit, des Friedens und der Bewahrung der Schöpfung verwirklicht.« Sie wird im Dienst an den Schwächsten und den Ausgegrenzten verwirklicht, besonders an den unfreiwilligen Migranten, die gegenwärtig einen Schrei in der Wüste unserer Menschheit darstellen. Die Kirche ist daher gerufen, alle daran zu erinnern, dass es nicht bloß um soziale Fragen oder Migrationsthematiken geht, sondern um Personen, um Brüder und Schwestern, die heute für alle Menschen stehen, die von der globalisierten Gesellschaft ausgesondert werden. Sie ist gerufen, Zeugnis dafür zu geben, dass es für Gott niemanden gibt, der „fremd“ oder „ausgeschlossen“ ist. Sie ist gerufen, die eingeschlafenen Gewissen derer zu wecken, die der Wirklichkeit des Mittelmeers, das für viele, zu viele zu einem Friedhof geworden ist, gleichgültig gegenüberstehen.
Ich möchte an die Bedeutung der ganzheitlichen Natur der Entwicklung erinnern. Der heilige Paul VI. sagte: »Entwicklung ist nicht einfach gleichbedeutend mit wirtschaftlichem Wachstum. Wahre Entwicklung muss umfassend sein, sie muss jeden Menschen und den ganzen Menschen im Auge haben« (Enzyklika Populorum progressio, 14). In anderen Worten: Aus ihrer Glaubenstradition heraus und in den letzten Jahrzehnten auch aufgrund der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils hat die Kirche stets die Größe der Berufung aller Menschen betont, die Gott nach seinem Bild und Gleichnis erschaffen hat, damit sie eine einzige Familie bilden; gleichzeitig hat sie versucht, das Menschliche in all seinen Dimensionen zu erfassen.
Eben dieses Erfordernis der Ganzheitlichkeit stellt uns heute die Menschheit neu vor Augen, die uns als Kinder des einen Vaters verbindet. »Mit ihrem ganzen Sein und in all ihrem Handeln ist die Kirche gerufen, die ganzheitliche Entwicklung des Menschen im Licht des Evangeliums zu fördern« (Motu proprio Humanam progressionem). Das Evangelium führt die Kirche immer zur Logik der Menschwerdung, zu Christus, der unsere Geschichte, die Geschichte eines jeden von uns angenommen hat. Daran erinnert uns Weihnachten. Die Menschheit also ist der besondere Schlüssel, mit dem die Reform zu lesen ist. Die Menschheit ruft auf, fragt an und ruft hervor, das heißt sie ruft dazu auf, hinauszugehen und die Veränderung nicht zu fürchten.
Vergessen wir nicht, dass das Kind in der Krippe das Gesicht unserer Brüder und Schwestern hat, die am meisten bedürftig sind. »Gerade die Armen stehen diesem Geheimnis besonders nahe und sind oft diejenigen, die am besten in der Lage sind, die Gegenwart Gottes in unserer Mitte zu erkennen« (Apostolisches Schreiben Admirabile signum, 6).
Liebe Brüder und Schwestern,
es geht also um große Herausforderungen und um notwendige Ausgewogenheit. Diese ist oft nicht leicht zu verwirklichen, aus dem einfachen Grund, dass in der Spannung zwischen einer glorreichen Vergangenheit und einer gestalterischen Zukunft, die in Bewegung ist, die Gegenwart liegt, in der es Menschen gibt, die notwendigerweise Zeit zum Reifen brauchen; es gibt historische Umstände, die im Alltag zu bewältigen sind, da während der Reform die Welt und die Ereignisse nicht stillstehen; es gibt rechtliche und institutionelle Fragen, die Schritt für Schritt gelöst werden müssen, ohne magische Formeln oder Abkürzungen.
Schließlich gibt es die Dimension der Zeit und den menschlichen Irrtum. Nicht damit zu rechnen ist weder möglich noch gerecht, weil sie zur Geschichte jedes Einzelnen gehören. Sie nicht zu berücksichtigen bedeutet, die Dinge unter Ausblendung der Geschichte der Menschen zu tun. In Verbindung mit diesem schwierigen geschichtlichen Prozess besteht immer die Versuchung, sich auf die Vergangenheit zurückzuziehen (selbst unter Verwendung neuer Formulierungen), weil diese beruhigender, vertrauter und sicherlich weniger konfliktgeladen ist. Auch dies gehört jedoch zum Prozess und zum Risiko, bedeutende Veränderungen einzuleiten.
Hier muss man vor der Versuchung warnen, eine Haltung der Starrheit anzunehmen. Die Starrheit kommt von der Angst vor Veränderung und übersät am Ende den Boden des Gemeinwohls mit Pflöcken und Hindernissen und macht ihn so zu einem Minenfeld der Kontaktunfähigkeit und des Hasses. Denken wir immer daran, dass hinter jeder Starrheit irgendeine Unausgeglichenheit liegt. Die Starrheit und die Unausgeglichenheit nähren sich gegenseitig in einem Teufelskreis.
Liebe Brüder und Schwestern,
die Römische Kurie ist nicht ein von der Wirklichkeit losgelöster Körper – auch wenn diese Gefahr immer besteht. Vielmehr muss sie im Heute des von den Männern und Frauen zurückgelegten Weges, in der Logik des Epochenwandels verstanden und erfahren werden. Die Römische Kurie ist nicht ein Gebäude oder ein Schrank voller Kleider, die angezogen werden, um eine Veränderung zu rechtfertigen. Die Römische Kurie ist ein lebendiger Körper, und sie ist es umso mehr, je mehr sie das Evangelium in seiner Vollständigkeit lebt.
In seinem letzten Interview wenige Tage vor seinem Tod sprach Kardinal Martini Worte, die uns nachdenken lassen: »Die Kirche ist zweihundert Jahre lang stehen geblieben. Warum bewegt sie sich nicht? Haben wir Angst? Angst statt Mut? Wo doch der Glaube das Fundament der Kirche ist. Der Glaube, das Vertrauen, der Mut. […] Nur die Liebe überwindet die Müdigkeit.«
Weihnachten ist das Fest der Liebe Gottes zu uns – der göttlichen Liebe, welche die Veränderung inspiriert, leitet und korrigiert und die menschliche Angst, das „Sichere“ aufzugeben, besiegt, um uns neu auf das „Mysterium“ einzulassen.
Gesegnete Weihnachten euch allen!
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