Großimam al-Tayyeb erinnert an gemeinsame Werte der Religionen
Christine Seuss - Vatikanstadt
Die Christen im Orient müssten sich von der Vorstellung befreien, eine „Minderheit“ darzustellen, ermunterte der Leiter einer der anerkanntesten Lehreinrichtungen des sunnitischen Islams weltweit, der al-Azhar in Kairo, die christlichen Bewohner der Region - seine Worte wurden mit spontanem Applaus aus dem Plenum bedacht. „Ihr seid vollwertige Mitbürger, mit Rechten und Pflichten. Wisset, dass unsere Einheit, ihr und wir, der Fels sein wird, an dem der Konflikt abprallen wird. Es darf keinen Unterschied zwischen Christen und Muslimen geben!“
Dies gelte im Umkehrschluss auch für die muslimischen Bürger, die in westlichen Regionen mit einer anderen Mehrheitsreligion lebten, mahnte der Großscheich an seine Glaubensbrüder gewandt: „Ich sage den Muslimen im Westen: fügt euch in die Gesellschaften ein, integriert euch auf positive Weise, um eure religiöse Identität zu schützen, so wie ihr die Gesetze dieser Gesellschaften respektiert. Ihr müsst wissen, dass die Sicherheit dieser Gesellschaften auch in eurer Verantwortung liegt.“
Eineinhalb Milliarden Muslime, eine ganze Glaubensgemeinschaft, habe einen hohen Preis für die terroristischen und völlig fehlgeleiteten terroristischen Akte einer Handvoll Fanatiker bezahlt, unterstrich der Imam mit Blick auf die Anschläge vom 11. September 2001 und darüber hinaus. Nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs und einer Reihe von blutigen Unruhen in der arabischen Welt seien es nun die Terroranschläge im Namen eines falsch verstandenen Islams, die eine ganze Religion weltweit in Misskredit gebracht hätten.
Eine „gesegnete Tafel“ in der Casa Santa Marta
Und nun, das Dokument zur Geschwisterlichkeit unter den Menschen, das der Papst und der Großscheich gemeinsam ausgearbeitet haben. Die Idee dazu sei „an einem Tisch“ geboren worden, als der Papst und der Großimam im Vatikan zusammengetroffen waren, gibt al-Tayyeb in die Entstehungsgeschichte der historischen Erklärung Einblick. Einer der jungen Gäste an der „gesegneten Tafel“ habe die Idee zu einem derartigen Dokument gehabt, der Papst und er selbst hätten sie sofort aufgegriffen: „Und in verschiedenen Treffen und Dialogen haben wir über die Situation der Welt nachgedacht, wir haben die Tötungen gesehen, die Situation der Armen, Enterbten und Verwitweten, der Waisen und derer, die aus ihrem Haus und ihrem armseligen Leben fliehen und wir haben uns gefragt: ,Was können die himmlischen Religionen ihnen als Rettungsring anbieten?‘“
Er habe mit Erstauen festgestellt, dass die Gedanken des Papstes exakt seinen eigenen Gedanken und Sorgen entsprachen, so al-Tayyeb: „Und da habe ich verstanden, dass jeder von uns das Gewicht der Verantwortung spürte, über die wir eines Tages – am Tag des Gerichts – vor Gott Rechenschaft ablegen müssen. … Wir waren uns einig, dass die himmlischen Religionen nichts mit diesen Bewegungen, mit diesen bewaffneten Gruppen zu tun haben, die als Terroristen bezeichnet werden.“
Die drei großen Leitgestalten der monotheistischen Religionen, Moses, Jesus und Mohammed, hätten dargelegt, das Gott der Gewalt gegen die Mitmenschen eine klare Absage erteilt habe, so al-Tayyeb unter Bezug auf die gemeinsame Tradition der zehn Gebote. „Derjenige, der behauptet, die Geschichte zeige, dass Religionen Grund für Kriege sind, irrt sich; derjenige, der sagt, dass die Religion außerhalb der Gesellschaft und der Geschichte bleiben müsse, irrt sich. Und das hat viele junge Menschen in die Irre gehen lassen.“
Von Interessen geleitete Fehliinterpretationen
Diese Verdrängung der Religionen habe zu einer Verkümmerung der ethischen Werte und des menschlichen Gewissens geführt, diagnostizierte der Großscheich, bevor er eingestand, dass dazu auch die fehlgeleitete Interpretation Heiliger Texte durch Religionsführer selbst beigetragen habe. „Wir stellen fest, dass das ehrliche Studium der religiösen Texte ihnen weder zugesteht, die Gewalt gutzuheißen, noch ihnen das Recht gibt, den Heiligen Text zu betrügen, der ihnen anvertraut ist,“ so der muslimische Gelehrte.
Doch fehlgeleitete Interpretationen von gutgemeinten Texten seien nicht auf die Religionen beschränkt, klagte der Großscheich mit Blick auf Internationale Abkommen, die eigentlich dem „Frieden“ und dem Schutz der Schwächsten dienen sollten, aber oftmals als Vorwand zur „Plünderung der Ressourcen vieler Länder“ genutzt würden.
„Dieser unser Appell fordert, damit aufzuhören, die Religionen zu instrumentalisieren und auf falsche und interessengeleitete Weise den Namen Gottes für Mord und Gewalt zu gebrauchen. Gott hat die Menschheit nicht geschaffen, um sich gegenseitig umzubringen oder den andren das Leben unmöglich zu machen. Gott der Allmächtige lädt nicht dazu ein, die anderen zu töten und zu terrorisieren.“
Die jungen Menschen hätten eine strahlende Zukunft vor sich, so der Großimam, der diese eindringlich dazu aufrief, sich die unterzeichnete gemeinsame Erklärung, eine „Weiterführung der Verfassung des Islam und der evangelischen Seligpreisungen“, zu eigen zu machen: „Ich werde mit meinem Bruder, seiner Heiligkeit dem Papst, für die uns verbleibenden Jahre zusammenarbeiten“, versprach al-Tayyeb abschließend, gemeinsam „mit allen religiösen Führern für den Schutz und die Stabilität unserer Gesellschaften.“
(vatican news)
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