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Die Predigt bei der Messe in Talllinn im Wortlaut

Pope dokumentiert im Folgenden die Predigt bei der Messe in Tallinn im Wortlaut und in offizieller deutscher Übersetzung.

APOSTOLISCHE REISE NACH ESTLAND

 

Homilie des Heiligen Vaters

 

Eucharistiefeier

(Tallinn, Platz der Freiheit, 25. September 2018)

Wenn wir in der ersten Lesung von der Ankunft des Volkes Israel – es ist bereits frei von der Knechtschaft in Ägypten – am Berg Sinai hören (vgl. Ex 19,1), kann man nicht umhin, an euch als Volk zu denken; man kann nicht umhin, an die ganze estnische Nation und an alle baltischen Länder zu denken. Wie solltet ihr euch nicht an die „Singende Revolution“ erinnern oder an die Menschenkette von zwei Millionen Personen von hier bis nach Vilnius [„Baltischer Weg“]? Ihr kennt die Kämpfe für die Freiheit und könnt euch mit diesem Volk identifizieren. Es wird uns also gut tun zu hören, was Gott dem Mose sagt, um zu verstehen, was er uns als Volk sagt.

Das Volk, das am Sinai ankommt, ist ein Volk, das schon die Liebe seines Gottes gesehen hat, die sich in Wundern und machtvollen Taten gezeigt hat; es ist ein Volk, das entscheidet, einen Bund der Liebe zu schließen, da Gott es zuerst geliebt und ihm diese Liebe zum Ausdruck gebracht hat. Es ist nicht gezwungen, Gott möchte, dass es frei ist. Wenn wir sagen, dass wir Christen sind, wenn wir einen Lebensstil ergreifen, dann machen wir es ohne Zwänge, es ist kein Tausch, bei dem wir etwas tun, wenn Gott etwas tut. Vor allem aber wissen wir, dass Gottes Angebot uns nichts nimmt; im Gegenteil, er führt uns zur Fülle und bestärkt alle Bestrebungen des Menschen. Einige halten sich für frei, wenn sie ohne Gott oder von ihm getrennt leben. Sie merken nicht, dass sie so als Waise durch dieses Leben gehen, ohne ein Zuhause, zu dem sie zurückkehren können. »Sie hören auf, Pilger zu sein, und werden zu Umherirrenden, die immer um sich selbst kreisen, ohne je an ein Ziel zu gelangen« (Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 170).

Wie beim Volk Israel nach dem Auszug aus Ägypten ist es unsere Aufgabe, zu hören und zu suchen. Mitunter denken einige, dass die Stärke eines Volkes heute an anderen Parametern zu messen ist. Der eine spricht mit lauterer Stimme, sodass er, wenn er spricht, sicherer scheint – ohne Nachgeben und Zögern; der andere fügt seinen Schreien Drohungen mit Waffengewalt, Truppenaufgeboten, Strategien hinzu … Dieser scheint dann „unerschütterlicher“. Doch das heißt nicht, Gottes Willen zu „suchen“, sondern „anzuhäufen“, um sich auf der Grundlage des Habens durchzusetzen. Diese Haltung birgt in sich eine Ablehnung der Ethik und damit Gottes selbst. Die Ethik stellt uns nämlich in Beziehung mit einem Gott, der von uns eine freie und verbindliche Antwort erwartet im Hinblick auf die anderen und auf unsere Umwelt, eine Antwort, die außerhalb der Kategorien des Marktes steht (vgl. ebd., 57). Ihr habt nicht eure Freiheit erlangt, um dann als Sklaven des Konsums, des Individualismus, des Machthungers oder der Herrschsucht zu enden.

Gott weiß, was wir brauchen; er kennt unsere Bedürfnisse, die wir oft hinter dem Wunsch nach Besitz verbergen, und auch unsere Unsicherheiten, die wir durch Gewalt besiegt haben. Im Evangelium, das wir gehört haben, lädt uns Jesus ein, den Durst, der in jedem Menschenherzen wohnt, durch die Begegnung mit ihm zu überwinden. Denn er kann uns sättigen, uns mit der Fülle der besonderen Fruchtbarkeit seines Wassers, seiner Reinheit, seiner überwältigenden Kraft erfüllen. Glaube heißt auch, sich bewusst werden, dass er lebt und uns liebt; dass er uns nicht verlässt und daher fähig ist, auf geheimnisvolle Weise in unsere Geschichte einzugreifen; dass er in seiner Macht und seiner unendlichen Kreativität Gutes aus dem Bösen hervorgehen lässt (vgl. ebd., 278).

In der Wüste wird das Volk Israel dann in Versuchung geraten, andere Götter zu suchen, das Goldene Kalb anzubeten, auf die eigenen Kräfte zu vertrauen. Doch Gott zieht es immer wieder neu an, und sie werden sich an das erinnern, was sie am Berg gehört und gesehen haben. Wie jenes Volk sind auch wir berufen, ein „auserwähltes, priesterliches und heiliges“ Volk zu sein (vgl. Ex 19,6; 1 Petr 2,9); der Heilige Geist erinnert uns an all das (vgl. Joh 14,26).

Auserwählt bedeutet weder exklusiv noch sektiererisch; wir sind ein kleiner Teil, der die Menge durchsäuert, der sich nicht versteckt noch absondert, der sich nicht für besser oder reiner hält. Der Adler gibt seinen Jungen Schutz, er bringt sie an steil gelegene Orte, solange sie sich nicht alleine helfen können, er muss sie aber antreiben, diesen ruhigen Platz zu verlassen. Er schüttelt sein Nest, er bringt seine Jungen in die Luft, damit sie ihre Flügel ausprobieren; und er bleibt unter ihnen, um sie zu schützen, um zu verhindern, dass sie sich weh tun. So macht es Gott mit seinem auserwählten Volk, er will, dass es „hinausgeht“, bei seinem Flug kühn ist und stets nur unter seinem Schutz. Wir müssen die Angst besiegen und die gepanzerten Räume verlassen, denn heute sieht sich der Großteil der Esten nicht als Glaubende.

Hinausgehen als Priester; durch die Taufe sind wir Priester. Hinausgehen, um die Beziehung zu Gott zu fördern, um sie zu erleichtern, um eine Begegnung in Liebe mit dem zu begünstigen, der ruft: »Kommt alle zu mir!« (Mt 11,28). Wir müssen in einem Blick der Nähe wachsen, um den anderen anzuschauen, von ihm gerührt zu werden und bei ihm Halt zu machen, so oft es nötig ist. Das ist die „Kunst der Begleitung”, die sich im heilsamen Rhythmus der Zuwendung verwirklicht und mit einem achtungsvollen Blick voll des Mitleids, der fähig ist zu heilen, Knoten zu lösen und den Mitmenschen im christlichen Leben wachsen zu lassen (vgl. Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 169).

Und Zeugnis davon geben, dass wir ein heiliges Volk sind. Wir können versucht sein zu meinen, die Heiligkeit sei nur für einige. »Wir sind alle berufen, heilig zu sein, indem wir in der Liebe leben und im täglichen Tun unser persönliches Zeugnis ablegen, jeder an dem Platz, an dem er sich befindet« (Apostolisches Schreiben Gaudete et exsultate, 14). Wie aber das Wasser in der Wüste nicht ein privates, sondern ein gemeinschaftliches Gut war, und wie das Manna nicht angehäuft werden konnte, weil es sonst verdarb, so breitet sich die gelebte Heiligkeit aus, fließt sie und befruchtet alles um sich herum. Heute entscheiden wir uns, heilig zu sein, wenn wir die Ränder und Peripherien unserer Gesellschaft heilen, dort, wo unser Bruder oder unsere Schwester liegt und unter der Ausschließung leidet. Lassen wir nicht zu, dass es erst die Person nach mir sei, die den Schritt macht, um ihm oder ihr zu helfen, und auch nicht, dass es eine Frage sei, die vonseiten der Institutionen gelöst werden muss; sondern richten wir selbst unseren Blick auf den Bruder oder die Schwester und reichen die Hand, um ihn oder sie aufzurichten. Denn in ihm oder ihr findet sich das Abbild Gottes, ein von Jesus Christus erlöster Bruder oder Schwester. Das bedeutet Christ sein und Tag für Tag gelebte Heiligkeit (vgl. ebd., 98).

In eurer Geschichte habt ihr dem Stolz, Esten zu sein, Ausdruck verliehen. Ihr besingt es mit den Worten: »Este bin ich, Este bleib ich, schön ist es, Este zu sein, wir sind Esten!« Wie schön ist es, sich als Teil eines Volkes fühlen, wie schön ist es, unabhängig und frei zu sein. Gehen wir hin zum heiligen Berg, zum Berg des Mose, zum Berg Jesu. Bitten wir Gott – wie das Motto dieses Besuchs sagt –, unsere Herzen aufzuwecken und uns die Gabe des Heiligen Geistes zu geben, damit wir in jedem Augenblick der Geschichte erkennen, wie wir frei sein, das Gute ergreifen und uns erwählt fühlen sollen; wie wir dazu beitragen können, dass Gott hier in Estland und in aller Welt seinen heiligen Stamm, sein priesterliches Volk wachsen lasse.

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25. September 2018, 16:47