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Kerstin Claus Kerstin Claus 

Missbrauchsaufarbeitung: Kritik am „Verantwortungs-Pingpong“

Vom „Gemeinsam gegen Missbrauch“ sind Staat und Kirchen in Deutschland noch entfernt: Kerstin Claus, Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs und selbst Betroffene, zeichnet im Interview mit der Reihe „Podcast Himmelklar“ ein differenziertes Bild und nimmt kein Blatt vor den Mund.

Claus beschäftigt sich rund um die Uhr mit Missbrauch und Fragen der Prävention und Aufarbeitung. Die katholische Kirche sei dabei ein Problemfeld unter mehreren, sagt die Unabhängige Beauftragte im „Podcast Himmelklar“, etwa ein bis zwei Stunden in der Woche sei sie mit Fällen aus diesem Bereich befasst. Wo die öffentliche Debatte „sehr stark alle Vorgänge rund um Kirchen reflektiert“, gebe es auch in den Bereichen Internat und Schule, Internet und Digitalmedien sowie der Welt des Sports viel aufzuarbeiten.

Die Fallhöhe im Kontext Kirche – einer Institution mit dem Anspruch moralischer Autorität und einer „abgeschlossenen“ Struktur – ist allerdings eine besondere. Claus übt Kritik an beiden großen Kirchen, was die Aufarbeitung betrifft. Mit Blick auf die für die Evangelische Kirche vorgestellte ForuM-Studie vom Januar hebt Claus hervor.

Resistenzen gegenüber Schutzkonzepten

„Das Erschreckendste daran war, wie groß die Abwehrhaltung ist, Prävention im Sinne von Schutzkonzepten in Gemeinden tatsächlich einzuführen. Man muss sich immer klarmachen: Wenn ich heute sexuelle Gewalt verhindern möchte, dann muss ich das vor Ort tun, wo Kinder und Jugendliche sich auch im Rahmen der Kirche bewegen. (…) Das heißt, selbst da, wo gesagt wird, ,in Prävention investieren wir viel‘, hat jetzt zum Beispiel für die evangelische Seite diese Studie festgestellt: Im gemeindlichen Kontext passiert da noch herzlich wenig. Das muss besser werden. Das finde ich erschreckend.“

In beiden Kirchen seien die Präventionsanstrengungen unterschiedlich, so Claus. Sie seien „häufig unterschiedlich gut in den einzelnen Gemeinden“ und „häufig nicht fachlich fundiert“, kritisiert sie. Mit Blick auf die katholische Kirche kritisiert sie uneinheitliche Standards im Umgang mit Betroffenen:

„Egal ob das ein gemeindliches Setting, ein Kirchenchor oder eine kirchliche Schule war, wir merken, wir sind noch weit davon entfernt, dass Betroffene sich auf eine verlässliche Qualität berufen können – im Umgang, aber auch in der Frage der Anerkennung.“

Viel geschieht, viel auch nicht

Dass Kirchen erst auf Druck der Öffentlichkeit Verfehlungen zugäben, im Bereich der Aufarbeitung aber auch teilweise wegweisend handelten sei „beides wahr“. Trotzdem sei die Frage:

„Reicht es, was es momentan gibt und was getan wird? Was ich erlebe, ist, dass immer wieder gesagt wird: Jetzt haben wir diese Studie und dieses Bistum hat noch jene Studie gemacht und jetzt muss es doch gut sein. Studien ersetzen nicht Aufarbeitung.“

In dem Interview nimmt Claus auch die nicht-geweihten Kirchenmitglieder in die Pflicht. Erst 2019/20 hätten die katholischen Laien „angefangen, sich zu diesem Thema zu verhalten“, dabei sei das Thema Missbrauch in der deutschen Kirche bereits 2010 bekannt gewesen: „Die Laien hatten sich trotzdem sehr zurückgehalten und immer wieder das Bild verbreitet, das sei ein Problem von Kirchenleitung und Klerikern“, so die Unabhängige Beauftragte, die auf den systemischen Charakter von Missbrauch und Verdrängungsmechanismen verweist. Erst wenn es eine „Rückkopplung auf gemeindlicher Ebene“ gebe und „die Anstrengung aller, die das System Kirche, prägen“, käme man weiter.

Black boxes Schule und Jugendhilfe

„Gleichzeitig stimmt es, dass andere Strukturen und andere Settings vielfach noch gar nicht wirklich angefangen haben, dass wir im Bereich der Jugendhilfe, auch im Bereich der Schulen diesen Aufschrei noch nicht gehört haben, wie wir ihn bezogen auf die katholische und jetzt auch die evangelische Kirche gehört haben“, fügt sie an.

Dass in Deutschland die Aufarbeitung bei der Institution Kirche selbst liegt und aus strukturellen Gründen nicht ausgelagert werden könne, sieht die Beauftragte als Manko an.

„Das führt auch zu einem teilweise immer wieder verräterischen Pingpong-Spiel, in dem die Kirche sagt: Mensch, wenn der Staat mehr tun würde, dann wären wir ja dabei. Das ist letztlich eine Form von Verantwortungsdelegation, die nicht funktionieren kann, weil der Staat im System der Bundesrepublik Deutschland bestimmte Zugriffs- und Eingriffsrechte nicht hat. Und die Kirche würde sich da auch sehr verweigern und verwehren, wenn der Staat da eingreifen möchte.“

Kein Verantwortungs-Pingpong, bitte

Claus macht Vorschläge, wie man das Problem angehen könne: „Das erste Element ist: Kirchliche Strukturen müssen bestmöglich Kirchengesetze dahingehend anpassen, dass es ein klares Recht auf Aufarbeitung und Qualitätsstandards im Bereich von Aufarbeitung mit verankert. Es wird ohne diese kirchengesetzlichen Anpassungen in meinen Augen nicht gehen. Das ist eine Form des Durchdeklinierens, die es braucht.“

Gleichzeitig müsse damit „ein individuelles Recht von Betroffenen auf Aufarbeitung einhergehen“ – „sowohl gegenüber Institutionen als auch insgesamt. Das ist eine Stärkung von Betroffenen, von der ich mir erwarte, dass sie auch das Gesetz zur Stärkung meines Amtes ein Stück weit leistet, dass im Koalitionsvertrag verankert ist und sich im Moment in der Umsetzung befindet.“

 

Staatliches Monitoring für Aufarbeitung

Von staatlicher Seite brauche es zu dem „ein Monitoring für Aufarbeitung“, „eine Ombudsstelle oder viele Ombudsstellen, wo Betroffene sich hinwenden können und sagen können: Jetzt habe ich das hier bei der Kirche angezeigt, ich habe dieses und jenes gemacht, aber es passiert nichts.“

Im parlamentarischen Raum erlebe sie heute „eine hohe Aufgeschlossenheit und ein hohes Interesse für dieses Thema“, verweist Claus auf eine Entwicklung, die sie wahrnimmt. Es gebe allerdings „immer wieder eine gewisse Ratlosigkeit“ hinsichtlich der Frage, wie der Staat auf Kirche einwirken könne. Ihr eigenes Amt könne und Regelungen zur Aufarbeitung könnten dieses Vakuum ein Stück weit auflösen, zeigt sie sich überzeugt.

Anerkennungskultur in Politik und Gesellschaft

 

Was bisher tatsächlich fehle, sei „eine Anerkennungskultur“. Es sei angesichts der „Millionen Betroffenen in den letzten Jahrzehnten“ etwa verwunderlich, „dass es die besondere Stunde im Bundestag zum Beispiel unter Einbeziehung von Betroffenen sexueller Gewalt noch nicht gegeben hat“. Diese Debatte habe im Abgeordnetenhaus „bisher so noch nicht stattgefunden“. Claus begrüßt es deshalb, das eine Berichtspflicht der Unabhängigen Beauftragten gegenüber gesetzlich verankert werden solle.

„Ich bin der festen Überzeugung, das muss im Bundestag von allen gehört und bearbeitet werden, was wir tun können, um heute besser zu schützen, was wir aber auch im Sinne einer Anerkennungskultur leisten können und müssen. Denn da stecken ja vielfältig wahnsinnige Lebensleistungen von Betroffenen dahinter, trotz dieser Gewalt, die sie erlebt haben, trotz oft jahrelangen sexuellen Missbrauchs so weit gekommen zu sein, wie sie eben individuell gekommen sind. Wir sind gesellschaftlich bisher nicht gut darin, anzuerkennen, was für individuelle Leistungen vollbracht werden.“

(vatican news – pr)
 

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15. Mai 2024, 12:27