Unser Sonntag: Nicht zu fassen…Umdenken von Gott her
Florian Wörner, Weihbischof in Augsburg
Joh 1, 1–5.9–14
Mitten in Nazareth steht heute der mächtige Bau der Verkündigungsbasilika. Sie wurde an der Stelle gebaut, an der nach der Überlieferung Maria vom Engel Gabriel erfuhr, dass sie Jesus, den Sohn des Höchsten, gebären wird. Geht man in die Unterkirche hinab, findet man Reste von Kirchen aus alter Zeit und eine Grotte, in deren Mitte ein kleiner Altar steht. Unterhalb der Altarmensa kann man auf einer Marmorplatte die Worte lesen: „Verbum caro hic factum est“ – „Hier (an dieser Stelle) ist das Wort Fleisch geworden”. Ich gebe es zu, dass ich jedes Mal Gänsehaut bekomme, wenn ich davorstehe und das lese: Hier ist das Wort Fleisch geworden. Gottes Wort wird ein Mensch, und zwar hier.
Wir haben ja schon Schwierigkeiten, uns mit unserem Verstand einigermaßen vorzustellen, was Ewigkeit bedeutet, und die gewaltigen Dimensionen des Weltalls mit Entfernungen von Milliarden von Lichtjahren auszudenken. Wie unendlich groß und für uns erst recht nicht ausdenkbar, geschweige denn fassbar, muss dann der sein, der von Ewigkeit her ist und der diesen unglaublichen Überfluss an Raum und Zeit geschaffen hat, und zwar durch sein Wort. Am Anfang der Bibel heißt es ja: Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde… Gott sprach: Es werde… (Gen 1,1.3) Und im eben gehörten Evangelium: „Alles ist durch das Wort geworden und ohne es wurde nichts, was geworden ist.“ (Joh 1,3) Alles verdanken wir also dem Wort Gottes. Und jetzt steht man in Nazareth, in der Grotte einer Kirche und liest auf einer Marmorplatte: Hier, (an dieser Stelle), ist dieses Wort Fleisch/ein Mensch geworden. Unglaublich: Der, den wir uns nicht vorstellen können, weil er so unendlich groß ist, macht sich klein und wird einer von uns. Der Ewige hat Zeit für uns und wird unser Zeitgenosse. Der Schöpfer der Welt liefert sich seinem Geschöpf aus. Er kommt uns so nahe und tritt so einfach auf, dass wir mit ihm auf Du sein können. Nicht zu fassen!
So unfassbar, dass es im eben gehörten Prolog des Johannes hieß: „Er war in der Welt und die Welt ist durch ihn geworden, aber die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf.“ (Joh 1, 10f) Das Schlimme an diesem Satz ist noch gar nicht ausgeschöpft mit dem Hinweis auf die vergebliche Herbergssuche von Maria und Josef im Weihnachtsevangelium. (Lk 2,1ff) Jesus, Gottes Wort, möchte ja auch in Dir und in mir Wohnung nehmen. Die Frage ist: Lasse ich ihn herein? Und wenn ja: Wo darf er überall hin und wohin nicht? Gibt es da Räume, wo draufsteht: „Privat! Zutritt verboten!“
Ich fange mal mit dem wichtigsten Ort, wo Gottes Wort Fleisch werden soll, an: unserem Herzen. Mit „Herz“ ist in der Bibel die Mitte der menschlichen Person gemeint, wo Verstand, Gemüt, Wille und Sinne zusammengehen. Der Verstand ist für´s Denken zuständig. Manche meinen, man müsse zu denken aufhören und den Verstand an den Nagel hängen, wenn man anfange zu glauben. Das Gegenteil ist der Fall: Glauben und Denken gehören zusammen und brauchen einander. Umkehren meint ja Umdenken, und dazu muss man den Verstand einschalten und denken - von Gott her denken, von seinen Maßstäben her, von seinen Prinzipien her denken. Und seine Maßstäbe und Prinzipien sind oft anders als die Unsrigen.
Gottes Reich rangiert unter ferner liefen…
Umdenken und damit Gottes Wort Fleisch werden lassen beginnt schon mit dem Prinzip Jesu: „Sucht zuerst das Reich (Gottes), dann wird euch alles andere dazugegeben.“ (Mt 6,33) Seien wir ehrlich: Wie oft läuft es genau umgekehrt? Wir kümmern uns um alles andere, und Gottes Reich rangiert unter „ferner liefen“. Eine Heidenangst um „alles andere“ treibt uns um, und Gottes Reich bleibt auf der Strecke. Umdenken ist angesagt!
Oder das Prinzip Jesu: „Geben ist seliger als nehmen“ (Apg 20,35). Oder mehr noch: „Wer das Leben um meinetwillen verliert, wird es finden.“ (Mt 10,39) Oder Paulus: „… ich bejahe meine Ohnmacht, … denn, wenn ich schwach bin, dann bin ich stark“. (2Kor 12,10) Oder: „… wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden“ (Mt 23,12) - den Stolz ablegen und in die Demut gehen, das führt dazu, dass man Gottes Niveau erreicht, der sich erniedrigt hat bis zum Äußersten. Oder in der Bergpredigt: Den Sanftmütigen und Friedensstiftern gehört (als Erben) das Land und den um seinetwillen Geschmähten und Verfolgten der Lohn des Himmels. (Mt 5,5ff) Das und vieles mehr erfordert ein neues Denken, ein Denken von Gott her, vom Evangelium her. Das ist zunächst eine Sache des Verstands.
Dann muss es aber auch ein Herzensanliegen werden, zu Herzen gehen, mich berühren, mich zu einem Liebenden machen, zu einem liebenden Freund, zu einer liebenden Freundin Jesu, so dass ich sagen und entscheiden lerne: Weil du es willst Herr, drum will ich … - aus Liebe. Ein Liebender fragt nicht: Was habe ich davon, rechnet sich das…? Ein Liebender sagt: Weil du es willst, Herr…
Christus muss im Herzen, in der Mitte der Person ankommen
Und wo Verstand und Gemüt bewegt werden, kommt es zur Entscheidung und zum konkreten Handeln.
Christus muss im Herzen seine Wohnung aufschlagen, in der Mitte der Person ankommen. Wo Verstand, Gemüt und Wille zusammengehen, da muss Gottes Wort Fleisch werden.
Mit dem Herzen ist biblisch verstanden schon der ganze Mensch gemeint. Aber vielleicht gibt es da doch noch so manche Bereiche in meinem Leben und in meinem Inneren - abgesperrte Räume, wo eben an der Tür draufsteht: „Privat. Zutritt verboten!“ Welchen Namen könnte man solchen abgeschlossenen Räumen geben?
Ich nenne mal einen solchen Raum „ٳܲ첹“. Wir haben ja gerade im Johannes-Prolog gehört: „In ihm war Leben und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht leuchtet in der Finsternis und die Finsternis hat es nicht erfasst.“ (Joh 1,4f) Da sind die dunklen Erfahrungen in unserem Leben: Enttäuschungen, Grenzen, Nöte, Verletzungen, Ängste, Schmerzen, Trauer, Bedrückendes, Leidvolles? Was macht das mit uns? Wie gehen wir damit um? Werden wir bitter, zynisch? Kapseln wir uns ab? Machen wir zu? Verschließen wir uns – Helfenden gegenüber, Gott gegenüber? Auch wenn es Mut abverlangt und womöglich Zeit und Geduld braucht: Es ist äußerst hilfreich und heilsam, die eigene Dunkelkammer behutsam zu öffnen. Das Dunkel wird nie so groß sein, dass das Licht der Hoffnung, das mit Jesus gekommen ist, nichts ausrichten könnte – wenn wir es nur wollen. Wer sich dem Herrn öffnet und Vertrauen knüpft, schöpft neue Kraft, und das Licht des Trostes und der Zuversicht kommt auch in diesen Raum hinein. Die Erfahrung des Kreuzes kann in einem neuen Licht gesehen werden: Als etwas, was mich weiterbringt, reifen lässt und wie Thomas von Kempen schreibt: „Trägst du dein Kreuz gern, so trägt es dich.“
Die Rumpelkammer des Herzens: Abgründe, Schuld und Sünde
Eine weitere und letzte Kammer: Ich nenne sie schlicht „ܳ첹“. Kein Mensch käme auf die Idee, sie im Rahmen einer Hausführung herzuzeigen. Es ist ja peinlich, wie es da drin aussieht, was sich da alles ansammelt: unnötiger Ballast, unaufgeräumt, verstaubt, veraltet! Man müsste da mal rein: Aufräumen, stöbern, „ausmisten“, entsorgen. Aber wer tut das schon gern? Man schiebt es vor sich her. Lässt es lieber, wie es ist. Schaut erst gar nicht hinein und lässt auch Gott nicht hineinschauen. Also auch hier: „Privat. Zutritt verboten!“ Es ist klar, was mit dem Inhalt der Rumpelkammer gemeint ist: Unsere Schattenseiten, die Abgründe, Schuld und Sünde. Wer meint, dass ihn das nicht betreffe und seine Rumpelkammer leer sei, macht sich was vor. Es sei denn, er war beichten. Im 1. Johannesbrief heißt es: „Wenn wir sagen, dass wir keine Sünde haben, führen wir uns selbst in die Irre und die Wahrheit ist nicht in uns … sein Wort ist nicht in uns.“ (1 Joh 1,8.10) Wie gehen wir damit um? Abstreiten, Verdrängen, auf andere schieben…? Niemand will sein Gesicht verlieren. Wir möchten alle gut dastehen. Und deswegen ist es am besten, diese Rumpelkammer aufzumachen, hineinzuschauen; – Der hl. Papst Johannes Paul II. hat es einmal so formuliert: „in die Wahrheit über sich selbst hinabsteigen“, und zwar mit Jesus. Mit ihm ehrlich hineinschauen, aufarbeiten, aufräumen und entsorgen - bei ihm entsorgen. Bei ihm ist es gut aufgehoben. Er vergibt, er lässt neu anfangen und aufatmen. Das ist meine Erfahrung, wenn ich von der Beichte zurückkomme. Am Kreuz hat der Herr sein Gesicht entstellen und schändlich zurichten lassen, damit wir keinen Gesichtsverlust erleiden müssen. Im Gegenteil: Sein Angesicht möchte immer mehr durch unser Gesicht leuchten. Der Herr möchte uns aufbauen, aufrichten, ganz und heil machen, heiligen.
Es ist gut, Ihm alles zu öffnen
Und drum ist es gut, ihm alle Räume - auch die Rumpel- und Dunkelkammern zu öffnen. Mit seiner Aufnahme in alle Ebenen, Bereiche und Aspekte unseres Lebens ist eine große Verheißung verbunden. Die möchte ich uns nicht vorenthalten. Im Evangelium hieß es: „Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden.“ (Joh 1,12) Durch die Taufe wird man Kind Gottes, und das gilt es, immer mehr zu werden. Als Kindern Gottes ist uns eine große Macht gegeben, eine gute Macht, die Macht der Liebe, die Macht Gottes. Wir sollten sie kraftvoll und beständig in Anspruch nehmen, um mitzuhelfen, dass sich das Gesicht dieser Erde zum Positiven verändert (durchs Gebet, durch unser Zeugnis in Wort und Tat, durch ein gutes Beispiel …).
„Verbum caro hic factum est“
Zu Beginn habe ich davon gesprochen, wie mich das jedes Mal bewegt, wenn ich vor der Marmortafel in Nazareth mit der Aufschrift „Verbum caro hic factum est“ stehe. In jeder hl. Messe geschieht auf dem Altar das Große: Dass der Herr in Brot und Wein zu uns kommt, mit Fleisch und Blut gegenwärtig ist und sich uns zur Speise und zum Trank schenkt. Je mehr wir ihn aufnehmen, desto mehr kann man im übertragenen Sinn auch von uns sagen: Hier, bei dem/bei der ist Gottes Wort Fleisch geworden. Unser Land braucht eingefleischte Kinder Gottes. Sehen wir zu, dass wir es immer mehr werden und anderen dabei helfen. Amen.
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