MHG-Missbrauchsstudie: Eine Hilfe zum Fragenstellen
P. Bernd Hagenkord - Vatikanstadt
Keine Studie kann in einem Schwung alles erklären, das will diese Studie auch gar nicht. Es wird Lob geben und Kritik, es wird Nachfragen und Vertiefungen geben, es wird wissenschaftlich gestritten und medial debattiert werden. Und das ist auch der Sinn der Studie.
Um die Ergebnisse einordnen zu können, werden zu Beginn der Studie die Einschränkungen genannt. „Erkenntnisse über das Dunkelfeld wurden nicht erlangt", heißt es gleich zu Beginn, es geht in dieser Studie also nur um aktenkundig gewordene Geschichten. Eine „Schätzgröße" wird genannt, aber es gebe Hinweise „auf das Ausmaß des anzunehmenden Dunkelfelds". Das wird Ansatz für weitere Studien sein.
„Erkenntnisse über das Dunkelfeld wurden nicht erlangt"
Auch wird die Beschränkung deutlich benannt, welche die Methode mit sich brachte: Die Art und Weise, Akten zu führen, bestimmt das, was man aus diesen Akten entnehmen kann. „Damit geht einher, dass zu vielen Aspekten ... keine Informationen vorlagen", heißt es.
Das will die Ergebnisse der Studie keinesfalls entwerten, aber gibt den Schlüssel zu ihrem Verständnis. „Alle Befunde sind rein deskriptiv", heißt es weiter. Ein statistischer Nachweis kausaler Zusammenhänge zwischen einzelnen Phänomenen sei nicht möglich, allenfalls Hypothesen dazu schienen erlaubt. Oder anders gewendet: Die Studie kann nicht alles erklären, kann und will aber helfen, zu den Konsequenzen aus dem Missbrauch die richtigen Fragen zu stellen.
Die Frage nach der Homosexualität
In der Debatte um Missbrauch geht immer wieder die Frage nach der geschlechtlichen Orientierung ein. Dazu sagt die Studie: „Das deutliche Überwiegen männlicher Betroffener unterscheidet sich vom sexuellen Missbrauch an Minderjährigen in nicht-kirchlichen Kontexten." Getrennt davon gibt es Zahlen zur „homosexuellen Orientierung der Beschuldigten", aber auch Hinweise auf einen selbst erlittenen sexuellen Missbrauch. Genaue kausale Zuordnung ist also auf Basis der Zahlen nicht so einfach. „Monokausale Erklärungen für das deutliche Überwiegen männlicher von sexuellem Missbrauch betroffener Kinder und Jugendlicher durch Kleriker der katholischen Kirche greifen zu kurz."
Ein Problem sei aber die Haltung der Kirche zur Weihe homosexueller Männer; das kirchliche Argument einer „tief verwurzelten homosexuellen Neigung" entbehre „jeder wissenschaftlichen Grunlage".
Was trat bei den Beschuldigten noch an Auffälligkeiten auf? Die Studie nennt generelle Überforderung mit Dienstpflichten, Vereinsamung, Alkohol- oder Medikamentenmissbrauch. Das erklärt oder gar entschuldigt nichts, hilft aber vielleicht dabei zu verstehen, wie Missbrauch zustande kommt. Reifungsdefizite, psychische Auffälligkeiten, finanzielle Probleme etc. sind alles Bereiche, die Kirche sich genauer ansehen muss, um Antworten zu finden.
Planmäßige Tatbegehung
Dorthin gehört auch die Aussage, dass drei Viertel aller Betroffenen mit den Beschuldigten in einer seelsorgerischen oder anderen kirchlichen Beziehung standen. Hier sprechen wir also von psychischem Druck, Versprechungen, Ausnutzung von emotionaler Bindung und nicht zuletzt auch von Gewalt. „Aus der Strafaktenanalyse lässt sich ableiten, dass die überwiegende Zahl der Taten auf einer planmäßigen Tatbegehung gründete (83 %) und es sich nicht um spontane oder einmalige sog. Durchbruchshandlungen handelte."
Zu den größten Problemen beim Sprechen über Beschuldigte - wie die Studie sie nennt - gehört es, zu verstehen, was in ihnen vorgeht. Es fanden sich „häufig Tendenzen, eigene Verantwortung und Schuld zu externalisieren oder sogar zu leugnen, während Reuegefühle eher selten geäußert wurden". Die Betroffenen vermissten ein „glaubhaftes Bekenntnis zur eigenen Schuld und Reue", bei den Beschuldigten, aber auch bei der Institution Kirche.
Institutionelle Schwächen
Fehler bei Versetzungen und Information, fehlende Unabhängigkeit der Stellen von Missbrauchsbeauftragten - solche Institutionelle Schwächen finden sich ebenfalls in der Studie.
Nach den ersten Veröffentlichungen der Ergebnisse der Studie ging es ganz schnell in der Debatte um den Zölibat; hier empfiehlt die Studie, sich genau anzusehen, inwieweit dieser ein „Risikofaktor" für eine bestimmte Personengruppe sein könne. „Offizielle Haltungen und Verlautbarungen der katholischen Kirche, dass der Zölibat z.B. ein „Geschenk“ für Priester sei, berücksichtigen nicht ausreichend biologische und psychosoziale Bedürfnisse nach Bindung. Eine reife und freiwillig gewählte zölibatäre Lebensform ist möglich. Die Grundvoraussetzungen der Freiwilligkeit und einer reifen Persönlichkeitsentwicklung müssen aber nicht notwendigerweise für alle Priesteramtskandidaten gegeben sein."
Ein weiterer Risikofaktor ist die Bedrohung des „eigenen klerikalen Systems", was zu Vertuschung und Schonung dieses Systems führen könne. „Die Untersuchungsergebnisse machen deutlich, dass es sich beim Missbrauch Minderjähriger durch Kleriker der katholischen Kirche nicht nur um das Fehlverhalten Einzelner handelt, sondern dass das Augenmerk auch auf die für die katholische Kirche spezifischen Risiko- und Strukturmerkmale zu richten ist, die sexuellen Missbrauch Minderjähriger begünstigen oder dessen Prävention erschweren." Es brauche eine Änderung klerikaler Machtstrukturen - und damit auch eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Weiheamt des Priesters. Auf jeden Fall aber gelte: „Sexueller Missbrauch ist vor allem auch Missbrauch von Macht."
Auch hier bleibt sich die Studie treu und formuliert keine kausalen Zusammenhänge, sondern liest Zahlen: Damit hilft sie beim Fragenstellen.
(Pope)
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