Albanien/Kosovo: Was zu tun ist, damit die Jungen bleiben können
Gudrun Sailer – Albanien/Kosovo
„Ich möchte später Architekt sein und ich möchte das in Deutschland machen. Deshalb lerne ich Deutsch.“
Das ist Sarr. Er ist 18 und besucht eine katholische Schule in Pristina, der Hauptstadt des Kosovo.
„Ich würde eigentlich gerne hierbleiben in meinem Land, aber im Ausland gibt’s bessere Chancen für mich.“
Das ist Ina, 21, sie lernt Sozialarbeiterin in Rrhesen in Albanien. Zwei Stimmen von vielen, die den Traum von einem schönen Leben skizzieren – ein Traum, den alle jungen Menschen haben dürfen. Ein Traum, den in Albanien und Kosovo fast alle im Ausland verwirklicht sehen. Aber es gibt Hoffnung auf eine Trendumkehr.
Unterwegs im Westbalkan
Erste Überraschung: Es lebt sich gut hier. Das erklären einhellig die Deutschen an den Botschaften in Albanien und Kosovo und übrigens auch die ausländischen Priester im diplomatischen Dienst. Das Klima ist milde, Albanien erinnert landschaftlich ohnehin an das nahegelegene Italien. Die Menschen sind gelassen und gastfreundlich. Beide Länder haben starke muslimische Bevölkerungsmehrheiten, es ist ein europäischer, entspannter und neugieriger Islam, der hier den Ton angibt; Mutter Teresa ist – zweite Überraschung - ein Star bei den Muslimen hier. Zu Weihnachten, erzählt der Bischof von Pristina-Prizren, kommen 1.000 Muslime zur Christmette in seine nagelneue Kon-Kathedrale, die Mutter Teresa gewidmet ist.
Religion ist kein Streitthema. Pressefreiheit ist gegeben. Beide Länder sind extrem pro-europäisch eingestellt, drängen in die EU. Albanien mausert sich, dritte Überraschung, gerade zu einem attraktiven Urlaubsland. Berge, Meer, unberührte Natur. Immer mehr Deutsche kommen zum Wandern und Chillen.
Kosovo: 50 Prozent Jugendarbeitslosigkeit
Dennoch wollen junge Leute weg aus Albanien und Kosovo. Und das ist keine Überraschung. Der durchschnittliche Monatslohn beträgt 400 bis 600 Euro, die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 25 Prozent in Albanien und sogar 50 Prozent im Kosovo. Man muss einflussreiche Zeitgenossen kennen, um überhaupt an einen Job zu kommen, erzählt Ina, Korruption spielt eine Rolle und Clandenken, das sei alles so unwürdig. Auch sind Albanien und Kosovo keine Wohlfahrtsstaaten. Luis, der bald in Pristina die Reifeprüfung ablegt, sagt:
„Die Jungen haben ein Problem, hier zu bleiben, weil es keine sicheren Jobs gibt. Es gibt keine Krankenkasse wie in Deutschland, zumindest nicht für alle, man muss sehr reich sein, um eine Krankenkasse zu haben und ins Krankenhaus zu kommen, wenn man krank ist.“
Luis ist mit seinen kosovarischen Eltern in Schweden aufgewachsen. Migration kennt er. Auch er will weg. Aber er denkt jetzt schon ans Zurückkehren – wie seine Eltern.
„Ich will ins Ausland umziehen, nach Deutschland, Österreich oder zurück in meine zweite Heimat Schweden. Ich möchte Medizin studieren und dann werde ich ein paar Jahre ein Leben ein Deutschland führen und noch ein paar Jahre später wieder zurück hierher umziehen. Ich bin in Schweden geboren und aufgewachsen und dann mit meiner Familie zurückgezogen, meine Eltern arbeiten hier, sie haben dort studiert und dann wollten sie dem Land, das ihnen so viel gegeben hat, etwas zurückgeben.“
Albanien schaut nach Italien, Kosovo nach Deutschland
Während Albanien nach Italien hin orientiert ist, schaut der Kosovo nach Deutschland. Berlins Botschafter in Pristina Jörn Rohde erzählt beim Hintergrundgespräch, die Niederlassung im Kosovo sei eine der größten deutschen Botschaften überhaupt – in einem Land von nicht einmal zwei Millionen Einwohnern. Es ist die Konsularabteilung, die das Haus fast zum Platzen bringt mit der Bürokratie rund um die Migration: Visa, Anerkennung von Bildungsabschlüssen, Familienzusammenführung.
Die „Schatzis“ in Deutschland
Fast 200.000 Kosovaren und Kosovarinnen leben heute in Deutschland, rund ein Zehntel der Bevölkerung im Kosovo. So wie Albaner, sind auch Kosovaren in Deutschland gefragte Arbeitskräfte. Sie gelten als anpassungsfähig, Klischees in Richtung Korruption und Kriminalität verblassen. Weil diese Auswanderer und Auswanderinnen viel erarbeitetes Geld nach Hause schicken, sich in der Heimat nach ein paar Jahren ihre Häuschen bauen, jeden Sommer zurückkehren und großzügige Feste feiern, gibt es im Albanischen ein deutsches Lehnwort für sie: die „Schatzis“.
„Das Phänomen der Auswanderung hat viele Aspekte“, bringt es in Tirana der Apostolische Nuntius in Albanien, Erzbischof Luigi Bonazzi, auf den Punkt; im Kosovo gibt es übrigens keinen Nuntius, weil der Heilige Stuhl das Land bisher nicht anerkennt. Kosovo und Albanien sind kulturell ähnlich, auch was die Minderheitensituation der katholischen Kirche betrifft. Wie also kann die katholische Diaspora-Kirche in diesen beiden Ländern helfen, damit junge Menschen hier eine Perspektive haben, die auch ihren Ländern in die Zukunft hilft?
„Der Beitrag, den die Kirche leisten kann, besteht vor allem darin, sich den anderen Instanzen des Landes, insbesondere den politischen, zur Verfügung zu stellen, um gemeinsam zu überlegen, ob es sich um eine vorrangige Notlage handelt, die noch nicht so offensichtlich ist. Mir scheint, dass die Auswanderung stärker als vorrangige Notlage anerkannt werden muss“, sagt der Erzbischof.
In Albanien ist seit 2013 der Sozialist Edi Rama Regierungschef, zu lange, sagen viele in Tirana. Dem Nuntius dagegen ist wichtig, dass die Frage der Emigration von keiner politischen Kraft im Land instrumentalisiert wird.
„Und dann denke ich, dass der eigene Beitrag der Kirche darin besteht, den jungen Albanern durch Erziehung und Bildung ihre Würde und Verantwortung gegenüber ihrem Land bewusst zu machen. Selbst wenn diese Verantwortung gegenüber dem eigenen Land auch gelebt werden kann, indem man weggeht; denn inzwischen wird die ganze Welt zu deinem Zuhause, deshalb kann auch ein Albaner in Italien zur Entwicklung Albaniens beitragen. Aber Albanien läuft Gefahr, den kreativsten und produktivsten Teil seiner Familie zu verlieren, nämlich die Jungen, die ins Ausland gehen.“
Dass Menschen nicht aus lauter Perspektivlosigkeit gezwungen sind, ihr Heimatland zu verlassen, sondern dass sie selbst wählen können: Das ist auch das Anliegen, das Papst Franziskus in diesem Jahr zum katholischen Welttag des Migranten und Flüchtlings vertieft. „Frei in der Entscheidung auszuwandern oder zu bleiben“ heißt seine Botschaft. Das Stichwort dazu hat der Nuntius benannt: Bildung. Und darauf setzt denn auch das Hilfswerk Renovabis ganz gezielt.
Kochen lernen: Beruf mit Zukunft in Albanien
Besuch in einer Schule in Lezha, Nordalbanien. Gepflegte Straße, modernes Schulgebäude. Direktor ist der italienische Ordensmann Antonio Leucci. Typ Macher mit einer natürlich wirkenden Autorität. Sein Orden, die Rogationisten, kam Anfang der 1990er Jahre, also gleich nach der Wende, nach Albanien. Und sofort dachten die Patres an eine Schule.
„Es gab da einen großen Bedarf. Sogar die Behörden drängten uns, diese Schule zu bauen. 2005 ging der Traum in Erfüllung, vor allem dank Renovabis. Bei uns lernen auch viele arme Kinder, vor allem Roma, die später eine Universität besuchen können.“
Mehr als 350 Jungen und Mädchen werden hier ausgebildet, und zwar aus katholischen, muslimischen und orthodoxen Familien, darauf legt der Ordensmann Wert.
„Wir versuchen, das Gefühl der Freundschaft und des Zusammenseins zu vermitteln. Glücklicherweise gibt es in Albanien nicht diesen Kampf zwischen Christen und Muslimen. Wir sind Geschwister. Das ist eine Realität, von der ich hoffe, dass sie von Dauer ist.“
Ausbildung für Tourismus
Die Schule bildet für Stellen in Tourismus und Gastronomie aus. Im Sommer arbeiten die Jugendlichen in Hotels der Region und gewinnen Berufserfahrung, verdienen erstes Geld – wichtig für den Selbstwert, wichtig fürs Feuerfangen. Dennoch, der Pater macht sich da nichts vor:
„Es gibt die Tendenz, Albanien zu verlassen. Ich kann die jungen Leute nicht halten, weil die politische Realität das Bleiben in gewisser Weise nicht begünstigt. Die jungen Leute gehen weg, weil sie keine Hoffnung mehr haben. Das ist das Traurigste in all den Jahren, die ich hier in Albanien verbracht habe. In letzter Zeit haben die Menschen einfach keine Hoffnung mehr, hier zu bleiben. Aber wenn alle weggehen, fehlt die Hoffnung erst recht.“
Dabei kann Pater Antonio selbst auf positive Gegenbeispiele an seiner Schule verweisen. Wir machen eine Stippvisite in der Lehrküche. 15 junge Leute in weißen Jacken wuseln herum, heute ist ein Testkochen. Die Kreationen der Schüler und Schülerinnen beurteilen Absolventen am runden Gästetisch.
„Ich habe das Handwerk an dieser Schule gelernt“, erzählt uns einer der Testesser, ein großgewachsener Twen, der auch als Profi-Basketballer durchgehen würde. Ladovik Zyku heißt er. „Dabei habe ich früher nie gedacht, dass ich das mal als Beruf machen würde. Warum probierst du nicht diese Kochkurse an der Schule?, haben meine Eltern gefragt. Dann habe ich das halt probiert. Ich mochte das Kochen, ich mochte die Schule, und eins kam zum anderen. Heute arbeite ich in einem großen Restaurant in Lezha. Und ja, Tourismus wird immer wichtiger in Albanien. Wer die Kochausbildung an der Schule macht, hat eine echte Perspektive. Tourismus, das ist die nahe Zukunft von Albanien.“
Eliteschule in Pristina: Auch für arme Kinder
In Pristina, Kosovo, besuchen wir eine ebenfalls katholische Schule, geführt auch hier von einem Männerorden, den Salesianern. Die Don-Bosco-Schule wurde 2001 eröffnet, kurz nach dem Kosovokrieg. Von den 1.100 Schülern sind 1.000 Muslime. Die Plätze sind sehr begehrt.
„Es ist die beste Schule in Pristina“, bestätigt ein Vater, der froh und glücklich ist, dass seine beiden Kinder hier lernen. Und eine Mutter erzählt, wie sie drei Tage und Nächte vor der Schule Schlange stand und biwakierte, um ihre Tochter einschreiben zu können. Das nämlich, das Schlangestehen, ist die Methode, die Schulleiter P. Dominik Qerimi eingeführt hat, um kein Kind zu bevorzugen oder zu benachteiligen. Was den Ordensmann spürbar irritiert, ist Ungerechtigkeit, eine Bevorzugung von ohnehin Bevorzugten.
„Nepotismus und Korruption, damit lösen Sie im Kosovo alles. Das Problem meiner ersten Jahre war, die Eltern auf der Warteliste friedlich zu halten. Sie schickten dauernd Leute, die mich überzeugen sollten, ihre Kinder in jedem Fall in die Schule aufzunehmen. Ich habe dann eine spirituelle Lösung ausgegeben: keine Ausnahme, für niemanden. Auch nicht für die Kinder des Staatspräsidenten. Als katholischer Pater, mit Brustkreuz, kann ich an dieser Schule nicht mit Worten predigen, aber ich predige mit Maßnahmen: Nein zu Nepotismus.“
120 Euro im Monat kostet das Schulgeld, ein Klacks für Privilegierte, ein Batzen Geld für die Mittelschicht, unbezahlbar für Benachteiligte. Jedes vierte Kind zahlt ermäßigtes oder kein Schulgeld. Wie auch Albanien, betrachtet Kosovo katholische Privatschulen als Privatangelegenheit und zahlt nichts, nicht einmal die Lehrkräfte. Umso dankbarer ist man für Unterstützung aus Deutschland: Renovabis hat der Schule kürzlich eine Sporthalle gesponsert. Und wenn nicht Deutschland in den Kosovo kommt, sondern der Kosovo nach Deutschland? Wie steht Pater Dominik zum Brain Drain junger Kosovaren?
„Wir wollen keine Schule sein, die die jungen Leute auf ihre Emigration vorbereitet“, stellt er klar. Und: „Im Kosovo kann man eigentlich gut leben. Der Krieg ist 24 Jahre vorbei, er ist immer noch eine Wunde, aber das ändert sich. Kosovo versucht gerade, von der EU Visafreiheit zu erlangen. Dann werden vielleicht zehn Prozent das nutzen, um auszuwandern, nicht mehr, glaube ich. Ungelernte Arbeiter gehen oft weg – auf Baustellen in Deutschland und anderswo. Aber wer hier ein Diplom hat, bleibt meistens“, behauptet P. Dominik mutig. Ob da der Wunsch Vater des Gedankens ist?
Job-Training: Erfolgsprojekt der Caritas
Jungen Leuten das frei gewählte Bleiben zu ermöglichen: Das versucht mit einem großangelegten Projekt auch die Caritas in Albanien und im Kosovo – unterstützt jeweils von Renovabis.
„Das Projekt heißt your job und besteht darin, Jugendliche von 15 bis 35 Jahren in den Arbeitsmarkt zu integrieren“, erklärt Juliana Bici von Caritas Albanien. „Es geht um Training und Kurse, wir vermitteln Praktika, helfen bei der Eingliederung und beraten bei der Gründung kleiner Unternehmen. Wir machen all diese Sachen nicht selbst, aber wir vermitteln sie.“
Wichtig ist: Die jungen Leute müssen selbst initiativ zu werden, um ins Programm zu kommen. Sie bewerben sich, durchlaufen ein Verfahren, erhalten ein Mentoring. Es geht darum, in Einklang zu bringen, was sie gerne tun möchten und was zu ihnen passt – das ist die wichtigste Motivation. Und wenn es passt, dann bleiben sie. Meistens.
„Aber kein Projekt der Welt kann die Emigration aufhalten. Wir leben in einem freien Land“, so Juliana Bici. „Dennoch bin ich glücklich für die Jugendlichen, auch wenn es weh tut: Sie verlassen Albanien, aber zumindest sind sie ausgebildet. Emigrieren ist ja schwer genug. Aber es gibt auch welche, die hier bleiben, Unternehmen gründen und dann auch andere beschäftigen. Wir haben viele Erfolgsgeschichten!“
Erfolgsgeschichte 1: Mati, der Gärtner
Eine solche Erfolgsgeschichte verkörpert der Gärtner Mati Zaguni. Er ist 28, hat Informatik studiert, ist nach Pistoia in Italien ausgewandert. Und dann zurückgekehrt. In einem Dorf in Nordalbanien, Grün so weit das Auge reicht, hat er eine Gärtnerei aufgemacht. Er mag es, wenn alles sprießt und wächst. Seine Pflanzen verkauft er nach Italien. Inzwischen beschäftigt Mati Zaguni sechs Leute. Was sagt er seinen albanischen Freunden im Ausland?
„Ich sage ihnen, dass Albanien viele Möglichkeiten hat, und dass man leicht sein eigenes kleines Business aufziehen kann. Wenn du das in Pistoia tust, wird es dir dein Leben auffressen, weil die Konkurrenz so hart ist. Hier in Albanien kann man wachsen.“
Erfolgsgeschichte 2: Valon, der Kanalreiniger
Ähnliches hat in Kosovo der muslimische Roma Valon Sylejmani erfahren. Er hätte nicht geglaubt, dass er für eine katholische Berufsförderung in Frage kommt, erzählt der 26-jährige Familienvater, der eine Sehbehinderung hat. Valon dachte an Auswanderung. Heute ist er selbständig, als Kanalreiniger, und beschäftigt einen Mitarbeiter. Your Job hat ihm geholfen, seine Profi-Ausrüstung zu kaufen.
Erfolgsgeschichte 3: Denisa, die Lernhelferin
Die Jungunternehmerin Denisa Domi, 26, konnte sich über das Caritas-Projekt mit einer Lernhilfe-Einrichtung für Schulkinder selbständig machen. „Meine Geschäftsidee ist, Kindern emotional und logisch und über Kreativität dabei zu helfen, besser zu lernen“, erklärt sie. „Viele im Kosovo haben emotionale Probleme, das ist normal in unserer Gesellschaft. Mein Ziel ist es, ihnen zu helfen, ihre emotionalen Fähigkeiten zu stärken. Eine schöne Aufgabe. Übrigens habe auch ich selbst mich gut entwickelt. Ich bin wirtschaftlich unabhängig und ich realisiere eine Idee von mir, die Wirklichkeit geworden ist. Das gab es vorher im Kosovo nicht: Spiel und Spaß beim Lernen.“
Für ihre Altersgenossen hat Denisa eine Nachricht:
„Wenn du aus dem Kosovo rauswillst, ist das ok. Jeder sollte sich nach eigenem Wunsch entwickeln. Nicht alle hatten so wie ich das Glück, auf dieses Caritas-Projekt zu stoßen. Das ist, was ich hoffe: dass jeder und jede Hilfe findet beim Hierbleiben.“
Die Pfingstaktion 2023 von Renovabis trägt den Titel „Sie fehlen. Immer. Irgendwo“ und kann auch mit einer unterstützt werden. Die Meditationen stammen von Bischof Dode Gjergji von Pristina-Prizren, dessen Vater 25 Jahre lang auf Baustellen in Österreich gearbeitet hat.
(vatican news – gs)
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