?Ich versprach, einen Weg zu finden“: Genese des ersten Welttages gegen Kindesmissbrauch
Von Sr. Bernadette M. Reis, Radio Vatikan, mit Jennifer Wortham
Für viele war dieser Freitag ein Tag wie jeder andere im Zentrum Roms gewesen. Die Kinder gingen zur Schule, Touristen tummelten sich in der Stadt, Einheimische gingen zur Arbeit, mit ihren Hunden spazieren oder kauften Lebensmittel ein. Doch für die Überlebenden von sexuellem Kindesmissbrauch auf der ganzen Welt ist der 18. November 2022 ein historischer Tag. An diesem Datum wurde der erste Welttag zur Prävention von sexueller Ausbeutung, sexuellem Missbrauch und sexueller Gewalt an Kindern begangen, der von den Vereinten Nationen am 7. November 2022 einstimmig anerkannt wurde.
In einer Pressekonferenz im Anschluss an die bahnbrechende UN-Aktion dankte die First Lady der Republik Sierra Leone, die gemeinsam mit ihrem Ehemann, Präsident Julius Maada Bio, die Resolution in Zusammenarbeit mit der Mission der Bundesrepublik Nigeria auf den Weg gebracht hatte, der Wissenschaftlerin Jennifer Wortham dafür, dass sie sie auf das Problem des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern aufmerksam gemacht und eine weltweite Kampagne zur Unterstützung der Einführung des Tages bei den Vereinten Nationen geleitet hatte.
Schwester Bernadette Reis von Radio Vatikan hat mit Dr. Jennifer Wortham über den Welttag und die Veranstaltungen in Rom in der vergangenen Woche gesprochen, die in einer Privataudienz mit Papst Franziskus und Überlebenden, die das Überlebenden- und Präventionsnetzwerk Global Collaborative mitbegründet haben, gipfelten. Jennifer Wortham arbeitet als internationale Expertin im Bereich öffentliche Gesundheit und hat zu diesem Thema führende Gesundheitsorganisationen im öffentlichen und privaten Sektor beraten. Ihre aktuellen Forschungen richten sich auf die Folgen des sexuellen Missbrauchs und Möglichkeiten der Heilung sowie internationale Prävention. In diesem Zusammenhang ist sie im Netzwerk Global Collaborative engagiert.
Ein Versprechen
Es war ein Versprechen, das sie ihrer Großmutter auf dem Sterbebett gegeben hatte, das Jennifer dazu inspirierte, einen weltweiten Tag für die Prävention und Heilung von sexuellem Kindesmissbrauch ins Leben zu rufen.
?Im Jahr 1993 erfuhr meine Familie vom Missbrauch meiner Brüder durch unseren geliebten Gemeindepfarrer. Die Nachricht von ihrem Missbrauch und die Ereignisse, die folgten, nachdem wir den Missbrauch bei den Kirchenbehörden angezeigt hatten, zerstörten meine Familie. Infolgedessen litten meine Brüder ihr ganzes Leben lang unter den emotionalen und körperlichen Auswirkungen des Missbrauchs. Ich versuchte, ihnen zu helfen, aber nichts, was ich tat, schien zu funktionieren. Ich hatte mich damit abgefunden, dass man nichts mehr tun konnte. Ich gab auf und lebte mein Leben weiter, half, wo ich konnte, mit finanzieller Unterstützung, wohl wissend, dass dies nur eine vorübergehende Erleichterung war.“
Im Jahr 2007 wurde bei Jennifers Großmutter Krebs diagnostiziert. Sie hatte nur noch wenige Wochen zu leben, als der aggressive Krebs entdeckt wurde. Jennifer erinnert sich, wie sie eines Abends in das Krankenzimmer ihrer Großmutter kam und sie weinend vorfand. ?Ich dachte, sie würde weinen, weil sie Angst vor dem Tod hatte, und versuchte, sie zu trösten. Ich sagte ihr: ,Hab keine Angst, du wirst bei Gott sein.‘ Dann sah sie mich an und sagte: ,Ich habe keine Angst vor dem Tod.‘ Ich fragte sie, ob sie Schmerzen habe, und sie sagte: ,Mein Herz tut weh. Es war meine Schuld, dass meine wunderbaren Enkel von unserem Priester missbraucht wurden... Ich habe diesen Mann in unser Leben geholt... Ich habe ihn mit meinen Enkeln allein im Pfarrhaus gelassen.‘“
Jennifer versuchte, ihrer Großmutter zu versichern, dass es nicht ihre Schuld war. ?Ich sagte ihr, dass niemand wüsste, dass ein Priester zu solchen Dingen fähig sei... aber nichts, was ich sagte, konnte sie trösten. Ich hielt ihre Hand, weil ich nicht wusste, was ich sonst sagen sollte, und dann sah sie mich mit ihren tränenerfüllten Augen an und sagte: ,Ich bin traurig, weil ich keine Zeit habe, das in Ordnung zu bringen, also musst du ihnen helfen. Wenn sie nicht lernen, ihren Schmerz und ihr Leid loszulassen, werden sie die Ewigkeit im Fegefeuer verbringen. Du musst mir versprechen, dass du ihnen hilfst, einen Weg zu finden, mir und der Kirche zu verzeihen. Bitte hilf ihnen, den Weg zurück zu Gott zu finden. Versprich mir, dass du das tun wirst.‘ Ich wusste nicht, wie ich es tun würde, aber ich versprach, dass ich einen Weg finden würde. Diesen Schwur habe ich sehr ernst genommen, aber ich hatte keine Ahnung, wie ich ihnen helfen sollte.“
Den Weg nach Hause finden
Jennifer versuchte zwar, ihren Brüdern zu helfen, ?aber nichts, was ich tat, schien zu funktionieren“, erzählt sie. Stattdessen ?vergingen Jahre, und ich verlor die Hoffnung. Dann, im Jahr 2015, stand ich vor einer schwierigen Herausforderung auf der Arbeit und fürchtete um meinen Job. Ich wusste nicht, wie ich mit der Situation umgehen sollte, und wünschte mir von ganzem Herzen, dass ich mit meiner Großmutter sprechen könnte, denn sie wusste immer, wie sie mir helfen konnte. Wäre sie noch am Leben, hätte sie mich zum Beten in die Kirche gebracht.“
Mit dem Rosenkranz ihrer Großmutter in der Hand machte sich Jennifer auf den Weg zur Sacred Heart Catholic Church in Palm Desert, Kalifornien. ?Ich schaute einfach auf die Marienstatue, blickte auf und fragte: ,Gott, was willst du von mir?‘ Ich betete und hörte die Worte ,Erbarme dich‘“.
Jennifer erinnert sich, dass sie von Erinnerungen an ?all die wundervollen Zeiten, die ich mit meinen Großeltern und der Kirche verbracht hatte, überflutet wurde... und mein Großvater war Messdiener... und zündete die Kerzen an... und meine Großmutter nähte Altartücher und Gewänder für die Priester und sang im Chor... meine Brüder dienten als Messdiener... Ich hatte das Gefühl, dass Gott mich in diesem Moment festhielt und ich nach Hause kam. Ich kehrte zur Kirche zurück“.
Jennifer beschreibt diesen Moment als einen, der mit ?Gnade, Klarheit und Vergebung“ erfüllt war. ?Es war, als ob all die Dinge einfach weg waren und ich mich geheilt fühlte“, erklärt sie.
Barmherzigkeit
Einige Monate später fand Jennifer zwei Vogelnester in ihrem Hinterhof. Sie gab eines davon einer Freundin und behielt das andere bei sich zu Hause. ?Eines Nachmittags schaute ich auf und sah, wie ich dieses Vogelnest Papst Franziskus überreichte. Ich hatte keine Ahnung, wie das geschehen würde, aber ich wusste, dass es eine Berufung war, der ich folgen musste“.
So faxte Jennifer nur wenige Tage nach dem Ende des Jubiläums der Barmherzigkeit einen sechsseitigen Brief mit einer spanischen Übersetzung an Papst Franziskus. Der Brief enthielt die Daten, an denen sie über Weihnachten in Rom sein wollte, und ihre Absicht, ihm ein Geschenk zu machen. ?36 Stunden später erhielt ich die Antwort, dass Seine Heiligkeit mich bei der Generalaudienz während meines Besuchs empfangen würde.“
Diese Audienz fand am 28. Dezember 2016 statt. Nach der Begrüßung mehrerer Prominenter und Würdenträger, der Segnung von Neuvermählten und Neugeborenen sowie der Seelsorge an Kranken war sie an der Reihe.
?Seine Heiligkeit stand vor mir und blieb etwa 10 Minuten bei mir. Er hatte Tränen in den Augen und entschuldigte sich für die Art und Weise, wie meine Familie behandelt wurde. Er fragte, wie es meinen Brüdern geht, und ich sagte ihm, dass sie sich abmühen. Ich bat ihn, für sie zu beten, und er sagte, er würde es tun. Ich überreichte ihm das Nest auf einem Sockel aus versteinertem Holz, zusammen mit einer kleinen Karte mit den Worten - Seine Liebe entspringt ewig. Als Papst Franziskus das Nest sah, lächelte er, las die Karte laut vor und fragte nach der Bedeutung des Geschenks. Ich erklärte ihm, dass ich berufen sei, ihm dieses Geschenk zu überreichen, als Anerkennung für alles, was er getan habe, um den Leidenden Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, und dafür, dass er die Welt über die Herrlichkeit der Barmherzigkeit aufgeklärt habe.“
Noch mehr ist möglich
?Als ich von meinem Besuch bei Seiner Heiligkeit nach Hause zurückkehrte, spürte ich, dass ich noch etwas tun musste.“ Dieses ?Etwas“ wurde ihr schließlich klar - die Einrichtung eines Welttages. Jennifer begann, sich an andere Organisationen zu wenden, darunter auch an die Päpstliche Kommission für den Schutz von Minderjährigen. Irgendwann wurde ihr klar, dass sie über einen Welttag, der vor allem in katholischen Kreisen gefördert wird, hinausgehen musste, denn ?sexueller Kindesmissbrauch kommt in jeder Glaubensgemeinschaft, in allen Bereichen und in jeder Region der Welt vor. Wenn wir das Problem wirklich auf globaler Ebene angehen wollten, müssten wir das Konzept bei den Vereinten Nationen einbringen“, erkannte sie.
?Das Symposium hat unserer Bewegung großen Auftrieb gegeben“, erinnert sich Jennifer, ?und wir haben mit vielen der Partner, die daran teilgenommen haben, die Global Collaborative ins Leben gerufen.“ Die Global Collaborative, erklärt Jennifer, ?ist ein von Überlebenden geleitetes Netzwerk, das Regierungen, Nichtregierungsorganisationen und religiöse Führer aus den verschiedenen Glaubenstraditionen zusammenbringt.“
Das Unmögliche wird möglich
Trotz dieses frühen Erfolges sagten ihr die internationalen Organisationen und viele der Regierungen, an die sich Jennifer wandte, dass die Anerkennung eines Welttages durch die Vereinten Nationen wahrscheinlich nie erfolgen würde. In einem offenen Brief, in dem sie die Staats- und Regierungschefs um die Anerkennung des Welttages bat, sammelte die Global Collaborative über 50 Unterschriften und traf sich mit Regierungsvertretern in verschiedenen Ländern. Die Antwort lautete ausnahmslos Nein.
Dann lernte Jennifer die Person kennen, die sie heute als ihre Heldin und die ?Perle Afrikas“ bezeichnet - die First Lady Fatima Maada Bio der Republik Sierra Leone. Fatima hatte bereits eine Erfolgsbilanz bei der Bekämpfung sexueller Gewalt gegen Kinder und der Förderung strengerer Gesetze und Strafen für Kindervergewaltiger in Sierra Leone vorzuweisen. Jennifer erinnert sich:
?Als ich mit der First Lady sprach, sagte sie: ,Ich werde dir helfen‘. Ich war mir nicht sicher, ob ich das glauben sollte, aber sie war so entschlossen und so beständig, dass wir anfingen, zusammenzuarbeiten. Die First Lady stellte Jennifer ihrem Mann, dem Präsidenten von Sierra Leone, vor, der sich bereit erklärte, den Welttag zu sponsern.
Ohne den Präsidenten und die First Lady von Sierra Leone und die wertvolle Unterstützung von Erzbischof Gabriele Giordano Caccia, dem ständigen Beobachter des Heiligen Stuhls bei den Vereinten Nationen, wäre die Verabschiedung des Welttages durch die UNO am 7. November nicht zustande gekommen, sagt Jennifer. ?Wir sind ihnen alle so unglaublich dankbar“, sagt sie, während sie auch den Beitrag so vieler anderer anerkennt, einschließlich des Europarats, der den 18. November bereits zum Europäischen Tag zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch erklärt hatte.
?Es war eine Reise. Die UNO stimmte am 7. November ab, und über 120 Länder unterstützten die Initiative. Und UN-Insider sagten, dass damit Geschichte geschrieben wurde, dass sie noch nie eine Resolution gesehen haben, die so schnell verabschiedet wurde. Es sollte so sein“, sagte Jennifer.
Feierlichkeiten zum ersten Welttag in Rom
Die Global Collaborative, die First Lady Fatima Maada Bio und andere Personen und Organisationen, die an den Bemühungen mitgewirkt haben, wurden am Vorabend des ersten Welttages, dem 17. November 2022, bei einer Gala in Rom geehrt und ausgezeichnet. Zu den weiteren Veranstaltungen gehörte ein Symposium, das in Zusammenarbeit mit dem Weltgebetstag und der Aktion für Kinder stattfand.
Am Samstag, dem letzten Tag, ?wurde uns eine Privataudienz bei Papst Franziskus gewährt, und er segnete jeden von uns und unsere Arbeit. Er kam herein und schüttelte jedem von uns die Hand, und wir konnten sehen, dass er Mühe hatte zu gehen, dass er litt. Einer seiner Betreuer bemerkte, dass er so begeistert war von dem, was wir getan und erreicht hatten, und von der Art und Weise, wie wir mit der katholischen Kirche, der Kirche der Heiligen der Letzten Tage und allen Glaubensgemeinschaften zusammenarbeiteten, dass er aufstehen wollte, um uns zu begrüßen: .... Wir waren alle tief bewegt und berührt.
Auch meine Brüder und meine Nichten waren dabei und konnten all diese Ereignisse miterleben. Ich glaube wirklich, dass es ihr Leben verändert hat. Nach dieser ganzen Erfahrung kann ich nur sagen, dass ich in meinem Herzen weiß, dass meine Großmutter vom Himmel herabschaut und weiß, dass ich alles in meiner Macht Stehende getan habe, um meinen Brüdern und all den Kindern, die auf der ganzen Welt sexuell missbraucht wurden, ihre Würde zurückzugeben, damit sie Frieden finden können“.
Prävention und gemeinsamer Einsatz
Laut den Statistiken, die von der Global Collaborative vor den ersten Veranstaltungen des Welttages veröffentlicht wurden, hat fast jede vierte Frau und schätzungsweise jeder 13. Mann vor ihrem 18. Geburtstag sexuelle Gewalt erlebt. Wie eine Überlebende auf der bilateralen Podiumsdiskussion am Freitag zusammenfasste, handelt es sich um eine Pandemie. Deshalb, so Jennifer, ?ist dies eindeutig nicht nur ein Problem der Kirche. Es ist ein Problem der Kirche, aber die Prävalenz ist in allen Glaubenstraditionen und in der Gesellschaft im Allgemeinen gleich hoch. 65-70 Prozent des Missbrauchs findet zu Hause statt“.
Anderen, die in der Kirche missbraucht wurden, und den Eltern sagt Jennifer: ?Die Kirche hat sich wirklich verpflichtet, in Zukunft besser damit umzugehen. Aber ich möchte nicht, dass die Leute denken: ,Oh, das passiert nur an einem Ort‘, und dass sie nicht darauf achten, was zu Hause mit ihren Kindern geschieht, was sie im Internet tun, und dass sie ihre Kinder nicht in eine Situation bringen, in der sie missbraucht werden könnten. Kindern muss beigebracht werden, Fremden nicht zu vertrauen und jemandem zu sagen, wenn sie missbraucht wurden. Außerdem sollte man sich auf die Warnsignale konzentrieren, auf die Bedingungen, die zu sexuellem Missbrauch führen, auf die Anzeichen von Missbrauch und darauf, wie man eingreift.“
Jennifer räumt ein, dass es nicht möglich ist, das Verbrechen des sexuellen Kindesmissbrauchs vollständig auszurotten. ?Was wir tun können“, sagt sie, ?ist, ihn viel früher zu erkennen, damit wir das Leben des Kindes ändern können, denn leider sind die meisten Opfer schwer geschädigt und haben langfristige Folgen. Wenn wir sie also früher erreichen, können wir dazu beitragen, einige dieser Schäden zu lindern“.
Nach Heilung suchen
Da es bereits so viele andere Gruppen gibt, die sich mit Prävention und Gerechtigkeit befassen, hat Jennifer ?Heilung“ als nächsten Schwerpunkt für die Global Collaborative ins Auge gefasst. ?Wir wollen einen Großteil unserer Arbeit auf die Heilung konzentrieren - Heilung der Opfer, Heilung der Familien, Heilung der Beziehungen, Heilung der Institutionen und der Glaubensgemeinschaften, die mit diesem Problem zu kämpfen haben. Für die Kirche glaube ich, dass sie, wenn wir den synodalen Weg wirklich gemeinsam gehen, wenn die Kirche mit den Opfern und ihren Familien geht, ihnen zuhört und sie auf ihrem Heilungsweg unterstützt, dazu beitragen wird, ihre Würde wiederherzustellen, ihnen Trost zu spenden und dauerhaften Frieden zu schaffen.“
(vatican news - pr)
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