Radio-Akademie (1): Christen in Syrien und Libanon
Ein Reporter von Radio Vatikan, Jean-Charles Putzolu, ist im Herbst 2021 nach Damaskus, Aleppo, Hassaké, Homs und Beirut gereist, um die Kirche(n) im Zweistrom- und im Zedernland zu besuchen. Unsere Radio-Akademie bietet ungewöhnliche Einblicke in zwei Länder, die von Krieg und Krise geprägt sind - aber nicht nur...
Damaskus: Der Schein trügt
Die Reise beginnt in Damaskus. Unglaublich, wie normal das Leben in der syrischen Hauptstadt wirkt – fast als wäre der Krieg weit weg, oder längst vorbei. Der Verkehr braust wie in jeder Metropole des Orients, die Straßen sind voller Menschen, die Läden sind offen, die Märkte gut bestückt.
Natürlich – der Augenschein könnte trügen: In der Provinz Idlib im Norden Syriens schleppt sich der Krieg weiter, und die Wirtschaftskrise bedeutet für die Menschen im ganzen Land eine schwere Prüfung. Fast von einem Tag auf den anderen ist die Mittelklasse verschwunden, in die Armut abgerutscht. Ein paar Zahlen: Ein Angestellter im öffentlichen Dienst verdient monatlich ca. 75.000 syrische Pfund. Ein Kilo Milchpulver für Kinder kostet 12.000 Pfund, einmal tanken kostet 20.000.
Die Binnenflüchtlinge im Hinterhof
Schwester Antoinette – Brille, Dauerlächeln im Gesicht - ist eine von fünf sogenannten Schwestern Jesu und Mariens in Damaskus. Der Orden wurde 1818 in Lyon gegründet, er ist seit 1983 in Syrien tätig. Hauptaufgabe: die Erziehung von Kindern. Die Schwestern versuchen armen christlichen Familien zu helfen, die wegen des Krieges aus anderen Teilen Syriens nach Damaskus geflohen sind.
Schwester Antoinette läuft durch die engen Straßen der Altstadt. In den Hauptstraßen wimmelt es von Geschäften und Restaurants, aber die Nebenstraßen wirken sehr viel trister. In eine dieser Gassen biegt Schwester Antoinette ein und steigt eine Treppe hoch, um Jacqueline und ihre 3 Kinder zu besuchen. Sie wohnen in einem einzigen, feuchten Zimmer.
Jacquelines Geschichte
Jacqueline kommt aus Ma'aloula, einige Dutzend Kilometer nordöstlich von Damaskus. Eine mehrheitlich christliche Stadt. Sie und ihr Mann hatten Ackerland, bauten Weintrauben und Feigen an. Als der Krieg ausbricht, ändert sich die Lage von einem Tag auf den anderen. 2013 umzingeln Islamisten die Stadt, eröffnen die Jagd auf Christen, führen öffentliche Hinrichtungen durch. Sie entführten mehrere Personen, darunter Jacquelines Ehemann Ghassan.
In diesem Klima des Terrors hat sie keine andere Wahl, als zu fliehen. Zusammen mit ihren Kindern macht sie sich auf den Weg nach Damaskus, wie Zehntausende von Familien, die die Hauptstadt für viel sicherer halten. Jacqueline erhält eine Lösegeldforderung, dann gibt es keinen Kontakt mehr zu den Entführern oder ihren Mittelsmännern. Drei Jahre lang hört sie nichts von ihrem Mann - bis 2016. Da ruft ein Soldat an und teilt ihr mit, dass im Libanon die menschlichen Überreste von fünf Personen gefunden worden seien. Eines der Opfer sei Ghassan, laut DNA-Analyse. Nach Angaben des Militärs wurden die fünf Männer von islamistischen Milizen hingerichtet; sie hätten sich geweigert, zum Islam überzutreten.
Nie wieder zurück nach Ma‘aloula
Jacqueline hat Glück: Sie hilft den Ordensfrauen aus, kann dadurch etwas Geld verdienen. In ihrem Wohnraum steht ein Bett, darin schläft sie mit ihren beiden Töchtern. Dann ein Sofa, auf dem Azar schläft. Außerdem ein alter Kühlschrank, ein Fernseher und eine Ölheizung. Auf dem Fensterbrett stehen ein paar Dosen und Brot. Im Hof kann sie eine alte Spüle und einen Gaskocher benutzen. Es gibt auch ein Klo, aber kein Badezimmer. Schwester Antoinette sammelt gerade das Geld für eine Dusche – bisher kommen die Kinder ins Kloster, um zu duschen.
Die Schwestern Jesu und Mariens helfen Hunderten von Familien. Sie stellen Lebensmittelpakete zusammen und versuchen, Kleidung und Geld für die Miete zu finden. Trotz der enormen Probleme, die sie jeden Tag zu bewältigen hat, möchte Jacqueline in Damaskus bleiben. ?Die Schulen in Damaskus sind besser“, sagt sie. In Ma'aloula hat Ghassans Bruder das Haus der Familie wieder repariert und versucht, die kleine Landwirtschaft wieder in Gang zu bringen. Jacqueline fährt im Sommer in den Schulferien dorthin. Aber zurückkehren nach Maaloula, um wieder dort zu leben? Nein. Das will sie nicht. Mit dem Ort verbindet sie traumatische Erinnerungen.
Regen, der in einen Eimer tropft
Am selben Tag besucht Schwester Antoinette noch eine andere Familie. Ein Ehepaar mit drei Kindern im Alter von 16 bis 18 Jahren. Es regnet, Strom gibt’s gerade nicht (der funktioniert im ganzen Land nur ein bis vier Stunden am Tag), und ein paar Regentropfen fallen durch das Wellblechdach in einen Eimer. Wie viele Familien, die sich keinen Generator leisten können, haben Georges und Marie eine Batterie, die eine Neonröhre betreibt.
Sie kommen aus Homs, dort waren sie Bienenzüchter. In einer Nacht müssen sie alles aufgeben und unter dem Beschuss von ?Terroristen“ fliehen. Erst zu Fuß, dann mit dem Bus nach Damaskus. Kurz nach ihrer Ankunft in der Hauptstadt bekommt Georges einen Herzinfarkt. Arbeiten kann er seitdem nicht mehr. Marie arbeitet als Näherin, das sorgt für ein kleines Einkommen, das aber nicht ausreicht, um die fünf Familienmitglieder angemessen zu ernähren. Die Familie ließ den ältesten Sohn die Schule abbrechen, damit er arbeiten und das Familieneinkommen aufbessern kann. Mit 18 Jahren liefert der Junge Getreide aus. Er pendelt zwischen einer Fabrik in Homs und der Hauptstadt Damaskus. Von den fünf Familienmitgliedern ist er der einzige, der nach Homs zurückgekehrt ist.
Christen wollen nicht verkaufen
In Homs ist von ihren Häusern und ihrem Land nichts mehr übrig. Die Villa, in der sie lebten, wurde dem Erdboden gleichgemacht. In Homs gibt es unzählige verlassene Häuser, und jeden Tag verlassen weitere Familien die Stadt und das Land. Oft machen muslimische Familien, die in Homs geblieben sind, den abwandernden Christen ein Kaufangebot. Doch die meisten Christen wollen nicht verkaufen.
Erst das Abi, dann die Flucht
Marie und Georges wollen das Land verlassen, sobald ihr Sohn sein Abitur bestanden hat. Das haben sie mit Schwester Antoinette vereinbart. Im Gegenzug für die Unterstützung durch die Schwestern, Lebensmittelpakete und Geld für die Miete wird der Junge im nächsten Schuljahr wieder zur Schule gehen, um die Schule zu beenden und seinen Abschluss zu machen. Dies ist eine Mindestgarantie für die Aussicht auf eine besser bezahlte Arbeit.
Die Zahl der Binnenflüchtlinge in Syrien wird auf etwa 7 Millionen Menschen geschätzt. 90% der Bevölkerung leben heute, wie die Familien von Jacqueline und Georges, unterhalb der Armutsgrenze (mit weniger als 1 USD pro Tag). 13,5 Millionen Menschen im Land sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Zweieinhalb Millionen Kinder gehen nicht zur Schule, was größtenteils darauf zurückzuführen ist, dass während des Krieges 40% der Schulen zerstört wurden.
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(vatican news – sk)
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