?Es gibt nicht ?das‘ Russland“
Im Gespräch mit dem Kölner Domradio weist Lipke darauf hin, dass die russische Regierung großes Interesse an guten Beziehungen zur katholischen Kirche habe. Und er rät dazu, die Katholiken in Russland nicht als einheitlichen Block zu sehen – dafür seien sie zu unterschiedlich.
DOMRADIO.DE: Die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland sind angespannt. Bundespräsident Steinmeier spricht davon, dass die Ostsee-Pipeline "Nord Stream II" die letzte Verbindung zwischen den Ländern sei. Sie arbeiten seit zehn Jahren als deutscher Jesuit in Russland. Wie würden Sie die Beziehungen einschätzen?
Stephan Lipke SJ (Generalsekretär der russischen katholischen Bischofskonferenz): Nord Stream II ist bei weitem nicht die einzige Verbindung zwischen Deutschland und Russland, die es gibt und die es geben wird. Es gibt Kontakte in der katholischen Kirche, in der evangelischen Kirche sogar noch mehr. Es gibt das Goethe-Institut. Ich habe Lebensläufe von drei Studenten auf dem Schreibtisch liegen, die über den KAAD, den katholischen akademischen Ausländer-Dienst Stipendien bekommen möchten, um in Deutschland zu studieren. Insofern gibt es Kontakte - und ich denke, dass es auch wichtig ist, Kontakte auf jeder Ebene aufrechtzuerhalten, um sich besser zu verstehen und um besser zu sehen, was vor sich geht.
Das ist viel interessanter als einfach nur eine regierungsoffizielle Sicht der Dinge. Ob Dialog, Diplomatie oder Konfrontation: Das Leben ist immer vielfältiger, als man denkt. Deshalb sind direkte Kontakte wichtig.
DOMRADIO.DE: Wie schätzen Sie die Lage der Katholiken in Russland ein?
Lipke: Die Lage der Katholiken ist ganz unterschiedlich. Es gibt nicht das Russland. Es gibt einerseits Moskau und Sankt Petersburg und andererseits den Rest des Landes. Das macht sich auch bemerkbar, was die Lebenssituation angeht. Die ist in den großen Städten doch viel angenehmer, viel einfacher als in den kleineren Städten, die aber auch zum Teil eine Million Einwohner haben.
In Moskau und Sankt Petersburg und vielleicht noch in Kaliningrad sind die Leute viel näher an dem, was im Ausland vor sich geht. Sie sehen verschiedene Sichtweisen der Dinge, lesen Nachrichten auf Englisch, was in den mittelgroßen Städten kaum der Fall ist. Das gilt sicherlich auch für die Katholiken.
Es gibt aber auch große Unterschiede zwischen jungen und älteren Katholiken. Viele der Älteren sind einfach nur froh, dass sie nicht mehr in den 1990er-Jahren leben, als alles unklar war und keiner wusste, wovon man morgen leben wird und ob man morgen zu essen bekommt. Die sind froh, dass es Gottesdienste gibt. Von den jungen Katholiken sagen viele, die Kirche und wir Christen haben einen Auftrag, für die Menschenrechte einzutreten. Insofern gibt es auch nicht "die" Katholiken, sondern ganz unterschiedliche Gruppen.
DOMRADIO.DE: Sie sagen, viele junge Katholiken wollen für Menschenrechte eintreten. Seit der Verhaftung des Kreml-Kritikers Nawalny gab es mehrmals große Proteste, an denen sich auch die Katholiken beteiligt haben. Wie stehen denn die Katholiken zur Regierung und zu den Protesten?
Lipke: Auch hier: Die Katholiken gibt es eigentlich nicht. Es gibt drei Gruppen. Älteren Katholiken ist Stabilität wichtig, Gottesdienste, in Ruhe beten zu können. Es gibt jüngere einheimische Katholiken, von denen viele sagen, es ist wichtig, für Menschenrechte einzutreten und auch zu protestieren. Und dann gibt es ausländische Katholiken, Studenten aus Afrika, aus Südamerika, aus Asien, die sehen, dass sie sich aus alledem möglichst raushalten, was ja auch verständlich ist, wenn man nur für ein paar Jahre da ist, wenn man die Sprache nicht spricht.
Insofern sind die Katholiken auch keine einheitliche Gruppe. Das ist auch die Aufgabe der Bischöfe und Priester, diesen verschiedenen Gruppen gerecht zu werden.
DOMRADIO.DE: Wie würden Sie das mit Blick auf die Orthodoxen einschätzen? Denen wird ja immer eher eine Regierungsnähe zugesprochen.
Lipke: Auch das ist bei jüngeren Orthodoxen in Moskau, Petersburg, aber auch in den anderen Städten keineswegs so eindeutig. Auch unter den praktizierenden Orthodoxen gibt es das ganze Spektrum politischer Meinungen, ob man jetzt offensiv für die Menschenrechte eintreten sollte oder eher vorsichtig. Das macht sich auch bei den Priestern bemerkbar. Da gibt es durchaus Priester, die die Kritik und Proteste auch unterstützen. Relativ viele der orthodoxen Priester haben auch selber Kinder, die junge Studierende sind oder sich in den letzten Schuljahren befinden. Insofern ist das für die ja auch nochmal besonders aktuell.
Aber es stimmt, dass die orthodoxen Bischöfe meistens die Linie der Regierung unterstützen. Sie legen großen Wert auf Stabilität und wollen auf keinen Fall, dass es so wird wie in der Ukraine und sie ihre Position gefährdet sehen.
DOMRADIO.DE: Wie steht die russische Regierung denn zur katholischen Kirche?
Lipke: Die Regierung ist sehr daran interessiert, gute Beziehungen zum Papst zu haben. Das ist auch noch mal dadurch viel stärker geworden, dass viele andere Beziehungen in den letzten zehn Jahren gelitten haben. Deshalb ist der Papst als Pontifex noch einmal wichtiger geworden als Brückenbauer zur restlichen Welt. Das merkt man schon. Deswegen wollen die Zentralregierung und auch die meisten Regionalregierungen gute Beziehungen zur katholischen Kirche im Land.
In manchen Provinzen ist es allerdings so, dass man nicht so viel von den Katholiken versteht: Wer sind die Katholiken? Ist das eine Sekte? Sind das irgendwelche Ausländer? Wie soll man die betrachten? Sind es vielleicht gar keine richtigen Christen? Da stehen doch manche Vorurteile im Raum. Daran kann man langsam aber sicher arbeiten. Ich denke aber, das ist in den letzten Jahren schon besser geworden. Von dem, was ich so mitbekomme, wie es in 1990er-Jahren oder auch in 2000er-Jahren war, ist es sicherlich im Laufe der Zeit besser geworden.
Im Grunde genommen ist das Verhältnis also nicht schlecht. Manchmal, wenn die orthodoxe Kirche, der orthodoxe Bischof vor Ort, sehr gegen die katholische Kirche eingestellt ist, dann kann er auch schon mal die Verwaltung beeinflussen. Das kann sich dann negativ bemerkbar machen. Das ist aber Gott sei Dank nicht oft der Fall und immer seltener in den letzten Jahren passiert.
DOMRADIO.DE: Wie stehen Sie denn persönlich zur Frage der Menschenrechte in Russland? Zu den Pro-Nawalny-Protesten und zu Präsident Putin?
Lipke: Es gibt in Russland große Fragen, wie es insgesamt mit den Menschenrechten aussieht, mit Gerechtigkeit, mit wirklich gleichen Rechten für alle, auch für Ausländer, die eine ungewohnte Hautfarbe haben. Alle sollten als Menschen behandelt werden, auch Behinderte, Menschen mit schwerer Krankheit, Menschen mit unterschiedlichen Ansichten.
Da ist sicherlich noch eine weite Strecke zu gehen. Da steckt den Menschen noch sehr die sowjetische Vergangenheit in den Knochen. Weniger tatsächlich bei den Bürgern, da hat sich einiges getan, aber vor allem bei den Behörden und den Beamten. Da hoffe ich doch, dass sich in den nächsten Jahren noch einiges tut. Es hat sich schon einiges getan, aber da ist sicherlich ein weiter Weg zu gehen.
(domradio – sk)
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