Fratelli tutti ?führt zurück zum Glutkern“ des Glaubens
Gudrun Sailer - Vatikanstadt
?Die europäische Debatte, ob diese Enzyklika zu wenig Theologie enthält, die erschließt sich mir immer weniger“, sagte Zechmeister im Gespräch mit Radio Vatikan. ?Was mich hier anspricht als lateinamerikanische Theologin, wenn ich das so präpotent sagen darf, ist, dass der Papst sich nicht um theologische Spitzfindigkeiten kümmert, sondern den Gott Jesu verkündet, den Gott, der der Liebhaber des Lebens ist. Deshalb sehe ich hier nicht eine Sozialenzyklika mit einem theolgischen Defizit, sondern für mich ist das die Verkündigung des Gottes Jesu Christi, und deshalb zentral theologisch. Mit Irenäus von Lyon: Die Herrlichkeit Gottes ist der Mensch, der lebt.“
Franziskus bündele in seinem Lehrschreiben das, ?was er über die Jahre in seinen prophetischen Zeichenhandlungen entwickelt hat“, so Zechmeister mit Verweis auf den Papstbesuch auf Lampedusa, die Begegnungen mit den lateinamerikanischen Volksbewegungen und viele weitere Episoden. Der Papst nimmt aus ihrer Sicht in der Kirche eine ähnliche Rolle ein wie seinerzeit Franz von Assisi; dort, am Grab des Heiligen, hatte Franziskus sein Lehrschreiben unterzeichnet.
?Im 12. Jahrhundert, in dem die Kirche zutiefst verwoben war mit dem feudalen System, die die Opfer dieses feudalen Systems aus den Augen verloren und sich in theologischen Schulstreitigkeiten verloren hat, hat Franz von Assisi das Christentum gerettet, indem er es zu den wesentlichen Anliegen Jesu zurückgeführt hat. Das heißt, was wirklich Christentum ist, was der Gott Jesu Christi ist, erschließt sich mit nicht in einem theologischen Oberseminar, sondern wenn ich die Wirklichkeit mit den Augen der Verletzlichsten wahrnehme und die gute Botschaft, das Evangelium, für die Opfer des jeweiligen Gesellschaftssystems verstehe. Hier geht es darum, zum Wesentlichen, zum Evangelium zurückzukehren - und das macht der Papst kraftvoll mit dieser Enzyklika.“
Menschen in Armut und Unsichtbarkeit stellt Franziskus in seinem Lehrschreiben auf eindringliche Weise als unser aller Geschwister dar. In Europa seien die an den Rand Gedrängten weniger sichtbar, was systemische Ursachen habe, erklärt die aus Niederösterreich stammende Ordensfrau der Congregatio Jesu. ?Europa kann es sich noch immer leisten, die Opfer seiner eigenen Politik unsichtbar zu machen oder jenseits der Grenzen zu halten“. In einem Land wie El Salvador zeigten sich die Auswirkungen ungerechter Wirtschaftssysteme weitaus deutlicher.
?Ich vergleiche es immer mit einem Wort von Ignacio Ellacuría, einem der Märtyrer der Universität, an der ich lehre. Er hat, mit einem drastischen Vergleich, die Analyse der Ausscheidungen als wesentliches Instrument der Diagnose eines Arztes bezeichnet. Die Konsequenzen eines globalen Sytems, einer globalen Politik, werden an den Rändern beinhart erfahrbar anhand derer, die aus dem Wirtschaftssystem herausfallen, die keiner braucht, die nutzlos sind, die Weggeworfenen, wie dieser Papst sagt. Und wenn das in Europa im Vergleich zur Mehrheitsgesellschaft wenige sind, so kehrt sich das in unseren Ländern um. Da ist es die Mehrheit, die keinerlei wirtschaftliche Perspektive hat.“
Papst Franziskus komme an dieser Stelle nicht – wie etliche Stimmen in Europa – mit moralisch wertenden Urteilen etwa zum Thema Jugendgewalt, so die Ordensschwester. Vielmehr lehre er, die Wirklichkeit so zu sehen, wie sie Jesus sah. Martha Zechmeister: ?Jesus war auch nicht Teil des Tempelkollegs und hat theologische Debatten geführt, dafür hat er herzlich wenig Verständnis gehabt. So hat auch dieser Papst dafür herzlich wenig Verständnis. Dafür lehrt er uns, die Welt mit den Augen Jesu von den Opfern her zu sehen und neu zu denken. Und das ist der grundlegende Ansatz der Geschwisterlichkeit. Es ist in keiner Weise eine Enzyklika, die zu Ressentiments oder Rachegelüsten verführt, sondern die das Christentum daran erinnert, dass wir die Wirklichkeit alternativ denken müssen. Nicht so: Der Motor der Welt sind die wirtschaftlichen Interessen, und das hat dann auch positive Auswirkungen auf die am Rand, die berühmte trickle-down-Theorie, die besagt, irgendwie wird auch etwas zu denen durchsickern, die unten sind. Franziskus stellt das auf den Kopf. Es ist eine Utopie, eine kraftvolle Übertreibung, so wie auch die Bergpredigt eine unterträgliche Übertreibung ist. Das heißt: Versucht die Welt so zu denken, dass jeder auf der Welt euer Bruder, eure Schwester ist. Und versucht das zum Kriterium eures Handelns zu machen!“
Zielführend ist aus Sicht der Dogmatikerin gerade der überindividuelle Horizont, den Papst Franziskus mit seinen ethischen Anstößen anvisiert – das, was er ?soziale und politische Liebe“ nennt. ?Normalerweise sind Nächstenliebe und Freundschaft romantische Verzierungen einer Wirklichkeit, die auf anderen Gesetzmäßigkeiten beruht. Aber der Papst fordert, Nächstenliebe, Freundschaft, das Gleichnis vom barmherzigen Samariter als politische Kategorie durchzudenken. Also so, dass es strukturbildend wird. Und das ist zutiefst lateinamerikanische Theologie. Der zentrale Begriff von Ignacio Ellacuría, für viele ein Buh-Begriff, ist strukturelle Sünde. Ellacuria redet aber auch von der strukturellen Gnade und den Strukturen der Gnade. Franziskus versucht, die Grundprinzipien des Evangeliums strukturbildend werden zu lassen - Strukturen der Gnade zu schaffen. Als Motor der Welt nicht die Profitinteressen zu deklarieren, sondern das ehrliche Interesse der politischen Freundschaft oder der sozialen Kategorie von Nächstenliebe und Freundschaft, die eine alternative Globalisierung denkt.“
Schwester Martha Zechmeister CJ lehrt Dogmatik und lateinamerikanische Theologie an der Universidad Centroamericana (UCA) José Simeón Cañas in San Salvador, jener Hochschule, die 1989 zum Schauplatz eines achtfachen Mordes wurde. Bei der Attacke starben sechs Jesuiten sowie eine Haushälterin und deren Tochter. Der spanische Jesuit und Rektor der Universität, Ignacio Ellacuría, galt im Bürgerkrieg (1980-1992) als Sympathisant der linken FMLN-Rebellen und versuchte zwischen den Seiten zu vermitteln. Erst im September 2020 verurteilte der spanische Staatsgerichtshof den früheren salvadorianischen General Inocente Montano als Auftraggeber der Morde zu 130 Jahren Haft.
(vatican news)
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