Biennale di Venezia: Besuch bei einem Franziskanerkünstler
Gudrun Sailer – Vatikanstadt
Auf dem Palatin kann man wohnen? In diesem weitläufigen Freiluftmuseum, dem Kern des alten Rom, mit Blick auf das Kolosseum, wo der Legende nach die Wölfin Romulus und Remus säugte? Ja, man kann. Wenn man Franziskaner ist. Die Ordensgemeinschaft unterhält auf dem Palatin ein kleines, verwinkeltes, altes Kloster, der einzige Punkt des römischen Hügels, der ohne Eintrittskarte zugänglich ist.
Den Pfad dorthin säumt ein Kreuzweg, den um 1750 der Franziskanermissionar Leonardo di Porto Maurizio angelegt hat. Im Kloster, San Bonaventura, lebt eine kleine Gemeinschaft, und ihr gehört der Künstler Sidival Fila an.
Sein Atelier befindet sich oben in dem turmartigen Bau. Den letzten, höchsten Stock nimmt ein quadratischer Galerieraum ein. Hier hängt ein Kreuzweg von Bruder Sidival und direkt unter der Holzdecke ein Kruzifix, beides aus Stoff, während in der Mitte ein feingliedriger Tisch mit 12 Stühlen steht, eine Installation mit deutlich sakralen Anklängen. 16 Fenster, vier auf jeder Seite des Raumes, geben den Blick von oben auf das Kolosseum und den Palatin frei.
Zum Zeitpunkt unseres Besuchs arbeitete Fra Sidival an seinem Beitrag für die Biennale von Venedig, die am 11. Mai eröffnet wurde. Er führt die Nadel, beugt sich über einen farbigen, schönen alten Stoff mit Blumenmuster, der auf einen Rahmen gespannt soeben zu einem zeitgenössischen Kunstwerk wird.
„Die Tätigkeit des Nähens ist eine der ersten Tätigkeiten, die als architektonischer Akt des Menschen anerkannt sind“, sagt Fra Sidival, der Name ist die portugiesische Variante von „Sigiswald“, wie uns der Künstler erklärt. „In meiner künstlerischen Sprache betrachte ich das Nähen als das Formen architektonischer Strukturen. Ich möchte mit Fäden eine Spannung erschaffen, die es erlaubt, der Materie zum einen eine bestimmte Form zu geben, und zum anderen eine Energie, die ich als Lebensenergie ansehe – eine Energie, die in den Fasern enthalten ist.“
Fra Sidivals Werke brechen die Zweidimensionalität des Stoffes auf. Die Fäden spannen sich als gleichzeitig gut sichtbare und fein geführte Naht über die Schnittstellen zwischen den Stoffteilen, sie sind Ornament und Struktur in einem, und dahinter tut sich eine dritte Dimension auf, eine Tiefendimension, die ebenfalls textil gestaltet ist. Die Schnitte bleiben einen Spaltbreit offen hinter den minutiös gesetzten Fäden, die wie filigrane Leitern über die Oberfläche des Stoffes laufen. Und dann gibt es da noch die vierte Dimension, die der Zeit: Der Stoff ist antik, 200 bis 300 Jahre alt.
„Die Materie ist dazu in der Lage, Informationen aufzunehmen und anzusammeln“, erklärt Fra Sidival, „und ich meine, dass wir das wahrnehmen können, die Ansammlung des Gelebten dieses Stoffes. Das wird dann zu Emotion, Empfindung, Gefühl, auch Erfahrung. So als würden wir unbewusst all das Gelebte entziffern, das im Stoff eingewoben ist.“
Den Stoff für das Werk, das für die Biennale bestimmt ist, hat dem Künstler ein Händler geschenkt, der für Italiens große Modehäuser arbeitet; er entdeckte dieses Stück bei einem Antiquitätenhändler. Es muss ein Stoffmuster gewesen sein, das den adligen Kunden damals bei der Auswahl des richtigen Gewebes half; Seidenbrokat, sagt Fra Sidival, entweder für Tapisserie oder für Sitzmöbel.
Künstler, Ordensmann und wieder Künstler
Sidival, Jahrgang 1962, übersiedelte 1985 von seiner brasilianischen Heimat nach Italien, auf der Suche nach seiner künstlerischen und geistlichen Identität, wie es in der Kurzbiografie des Künstlers für die Biennale heißt. Hier trat er dem Franziskanerorden bei und ließ seine künstlerische Arbeit für 20 Jahre ruhen. 2006 nahm er den Faden wieder auf. Es passt zur Aura des alten Bettelordens, dass Sidival Fila gebrauchte Stoffe nutzt, Textilien, die oft, aber nicht immer, aus einem liturgischen Kontext stammen. Die ältesten wurden im 17. Jahrhundert gewoben und sind sehr empfindlich.
Dass die Arbeit mit Textilien, zumal das Nähen mit Nadel und Faden, in unserer heutigen Wahrnehmung eher der Sphäre des Weiblichen zugeordnet ist, stört den Künstler mit seinem schönen grauen Bart nicht im Geringsten. „In früheren Zeiten schenkten wohlhabende Frauen der Kirche ihre schönsten Kleider. Die wurden dann den Heiligenstatuen angezogen, oder man hat sie zu liturgischer Kleidung verarbeitet“, erklärt der Ordensmann. Aus Frauen- wurde Männerkleidung. Ohne weiteres. Wer weiß, vielleicht war eine solche Transgression lange Zeit nur im Sakralen möglich. Oder eben in der Kunst.
Der erste Franziskaner auf der Biennale
Sidival Fila ist der erste Franziskaner, der auf der Biennale vertreten ist. Seine Werke sind im Venedig-Pavillon zu sehen. Die Ausstellung zeitgenössischer Kunst, die beim letzten Mal 600.000 Besucher anzog, läuft in der Lagunenstadt bis 24. November.
(vatican news)
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