Offen für das Geheimnis
ANDREA TORNIELLI
?,Das Lehramt der Kirche schützt den Glauben der Einfachen - derer, die nicht Bücher schreiben, nicht im Fernsehen sprechen und keine Leitartikel in den Zeitungen verfassen können. Das ist sein demokratischer Auftrag. Es soll denen Stimme geben, die keine haben“ (Silvesterpredigt, 1979). Diese Worte von Kardinal Joseph Ratzinger kommen mir in den Sinn, nachdem ich die Normen des Glaubensdikasteriums über mutmaßliche übernatürliche Phänomene gelesen habe.
Das Dokument spiegelt den pastoralen Ansatz wider, der das Pontifikat von Franziskus prägt und der nötig war, um Schwierigkeiten, Sackgassen und offene Widersprüche zu überwinden, die im letzten halben Jahrhundert aufgetreten sind – mit manchmal völlig konträren Verlautbarungen zu ein und demselben Phänomen.
Der Glaube der einfachen Menschen wird in erster Linie dadurch geschützt, dass der Text klar bekräftigt, dass die Offenbarung mit dem Tod des letzten Apostels zu einem Ende gekommen ist. Kein Gläubiger ist daher verpflichtet, an Erscheinungen oder andere übernatürliche Phänomene zu glauben, selbst wenn sie im Laufe der Jahrhunderte von der kirchlichen Autorität gebilligt und ausdrücklich für übernatürlich erklärt wurden. Gleichzeitig wird in dem Text anerkannt, dass außergewöhnliche Erscheinungen in einigen Fällen eine Fülle geistlicher Früchte und ein Wachstum im Glauben bewirkt haben. Darum darf die Autorität der Kirche nicht a priori zu einem negativen Urteil kommen – als ob Gott oder die Jungfrau Maria die Genehmigung der Kurie oder einer vatikanischen Behörde bräuchten, um sich zu offenbaren.
Ebenfalls sehr deutlich wird die Absicht, den Glauben der einfachen Menschen vor Phantastereien, Fanatismus, Betrug, religiösen Marketingphänomenen sowie vor der Besessenheit zu schützen, dieser oder jener apokalyptischen Botschaft nachzujagen und darüber das Wesentliche des Evangeliums zu vergessen.
Auffallend ist die Entscheidung, nicht mehr zu verbindlichen Erklärungen der Echtheit und Übernatürlichkeit des Phänomens kommen zu wollen - außer in sehr seltenen Fällen, die direkt in die Autorität des Nachfolgers Petri fallen. Auch dies ist ein Weg, um den Glauben des Gottesvolkes zu schützen und mehr Freiheit zu lassen, an Andachten und Pilgerfahrten festzuhalten, wenn keine Gründe dagegen sprechen. Das Phänomen weiter zu studieren, die Seher zu begleiten, ohne sie allein zu lassen (wie es leider verschiedentlich geschehen ist), pastorale und katechetische Aktivitäten durchzuführen, die helfen, gute geistliche Früchte zu tragen.
Statt der bisherigen drei werden sechs Kategorien für das abschließende Urteil über die mutmaßlichen Phänomene eingeführt. Nach den alten Normen von 1978 konnte das Urteil mit einer Erklärung der Übernatürlichkeit (constat de supernaturalitate) schließen, mit einer negativen, aber für eine mögliche Weiterentwicklung offenen Erklärung (non constat de supernaturalitate) oder mit einer entschieden negativen Erklärung, wenn die Nicht-Natürlichkeit offensichtlich war (constat de non supernaturalitate). Heute gibt es mehr Möglichkeiten und Nuancen, auch um den Glauben der Einfachen zu schützen, und in der Regel wird das positivste Urteil das des nihil obstat. Ein Urteil, das allerdings die Kirche nicht dazu zwingt, sich zur Übernatürlichkeit zu äußern, sondern das lediglich bezeugt, dass die positiven Elemente überwiegen und es sich daher um ein zu förderndes Phänomen handelt.
Einiges von dem, was in den letzten Jahrzehnten geschehen ist, hilft auch zu verstehen, warum von nun an immer die Beteiligung des Dikasteriums für die Glaubenslehre erwartet wird und der Diözesanbischof in Übereinstimmung mit dem Heiligen Stuhl entscheiden soll. Die Maßnahme wurde nötig, weil es in der Vergangenheit Fälle widersprüchlicher Verlautbarungen gab. Und weil es offensichtlich unmöglich ist, solche Phänomene allein von einem lokalen Standpunkt aus zu beurteilen.
(vatican news)
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