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Der Arm der Erinnerung

Die Laokoon-Gruppe in den Vatikanischen Museen gilt als berühmteste Skulptur der Antike. Sie tauchte 1506 fast unversehrt im Erdreich eines römischen Weinbergs auf, nur ein Arm fehlte ihr. Den fand 400 Jahre später der altösterreichische Antikenhändler Ludwig Pollak. Er schenkte ihn dem Papst. Als Jude wurde Pollak 1943 von den Nazis aus Rom nach Auschwitz deportiert. Der vatikanische Museumsdirektor Nogara versuchte, ihn zu retten – erfolglos.

Paolo Ondarza – Vatikanstadt

Ungläubigkeit und Ohnmacht angesichts eines tragischen Schicksals, das unerwartet hereinbricht: Diese beiden Gefühle verbinden zwei zeitlich weit voneinander entfernte Figuren, deren Schicksale sich auf unglaubliche Weise miteinander verflechten. Anstoß ist, wortwörtlich, ein Stein. Genauer gesagt, das Fragment einer Skulptur. Die beiden Figuren, deren Schicksale in diesem Stein zusammenkommen, sind Laokoon und Ludwig Pollak.

Ludwig Pollak, in Rom stationierter Kunsthändler
Ludwig Pollak, in Rom stationierter Kunsthändler

Beim Steinmetz in der Werkstatt

Ludwig Pollak (1868-1943), geboren in Prag, war ein international bekannter, schon lange in Rom lebender jüdischer Antiquar, Kunsthändler und Archäologe, berühmt für die Entdeckung einer Marmorkopie der Athena von Myron in Rom, die sich heute in der Skulpturensammlung Liebighaus in Frankfurt befindet. Pollak war befreundet mit Sigmund Freud und aktiv im Kreis der großen Sammler wie JP Morgan, Stroganoff, Barracco, Bode. Das alles schützte ihn nicht davor, 1943 im KZ Auschwitz-Birkenau ermordet zu werden.

Vierzig Jahre zuvor hatte Ludwig Pollak einen seiner Streifzüge in Rom unternommen, die ihn regelmäßig zu Ausgrabungen, Trödlern und Marmor-Handwerkern führten. Bei einem Steinmetz auf dem Hügel Colle Oppio, in der Via delle Sette Sale unweit des Kolosseums, stieß er an jenem Tag auf einen Arm aus Marmor, der bei einer Grabung in der nahe gelegenen Via Labicana ans Licht gekommen war. Pollaks untrügliches Gespür ließ ihn erkennen, was er vor sich hatte: den fehlenden Arm des Laokoon, der berühmtesten Skulptur der Vatikanischen Museen. Der Antiquar kaufte das Fragment und trug es nach Hause.

Das Opfer

Laokoon ist die zweite Figur unserer Geschichte. Eine Figur der griechischen Mythologie. Der Priester aus Troja warnte vor dem hölzernen Pferd, das seine Mitbürger als Geschenk betrachteten. Zur Strafe für seine Prophezeiung hetzte die Göttin Athena Laokoon und seinen beiden Söhnen riesige Seeschlangen an den Hals, die alle drei Männer töteten.

Das Ungeheuer

So, wie Reptilien sich in der Natur häuten, können auch andere Ungeheuer Haut und Gesicht abstreifen, neue Gestalt annehmen und auf erschreckende, unerklärliche Weise in den Alltag des Menschen einbrechen. Im Fall des Laokoon war es eine unverdiente, von Göttern verhängte Todesstrafe. Im Fall Pollaks der Nationalsozialismus. In beiden Fällen verschlang das Ungeheuer auch die kleinste Hoffnung, am Leben zu bleiben.

Giandomenico Spinola
Giandomenico Spinola

Die Tragödie wiederholt sich

Es ist letztlich auch die Geschichte unserer Tage, reflektiert Giandomenico Spinola, stellvertretender künstlerischer und wissenschaftlicher Direktor der Vatikanischen Museen und ehemaliger Leiter der Abteilung für Archäologie. „Heute sollten die Menschen im Heiligen Land einfach morgens aufstehen, ihre Einkäufe erledigen, die Kinder zur Schule bringen und ihr tägliches Leben führen, egal ob auf der einen oder der anderen Seite. Ich glaube nicht, dass der Krieg irgendjemandem Freude bereitet, er ist eine große Tragödie. Das bezeugte seinerzeit auch die Pollak-Affäre. Da wurden Misshandlungen und Morde aus unlogischen, pseudoreligiösen Gründen für etwas begangen, das weder mit Religion zu tun hat noch mit der alltäglichen Freiheit oder mit irgendetwas, das den Tod wehrloser Menschen rechtfertigen könnte."

Brief von Pollak an Bode. Mit freundlicher Genehmigung des Zentralarchivs der Staatlichen Museen zu Berlin
Brief von Pollak an Bode. Mit freundlicher Genehmigung des Zentralarchivs der Staatlichen Museen zu Berlin

Auffallend ist die scheinbare Leichtigkeit, mit der Ludwig Pollak in einem Brief aus dem Jahr 1903 seinen sensationellen Fund in der Steinmetzwerkstatt mitteilt. Das Schreiben an Wilhelm von Bode, der im Jahr darauf das Kaiser-Friedrich-Museum gründen wird, liegt im Zentralarchiv der Staatlichen Museen zu Berlin. „Pollak stand in seiner Rolle als Kunsthandelsexperte in Kontakt mit führenden privaten Sammlern und internationalen Museumsdirektoren“, erklärt die Kunsthistorikerin Federica De Giambattista von der Sapienza-Universität in Rom, die über Pollak gearbeitet hat. In seinem Brief an Bode berichtet er dem Freund, den rechten Arm des Laokoon erworben zu haben. „Er nennt ihn ,ein großes Heurema´, eine schöne Entdeckung, und schreibt: ,Er ist jetzt mein Eigentum!´ Wenn Pollak Ausrufezeichen verwendet, dann deshalb, weil er sich bewusst ist, dass er etwas sehr Wichtiges mitteilt".

Athena in Graf Stroganoffs Abstellraum

Pollaks Spürsinn, seine Begabung, Antikenfragmente zu entdecken und richtig zuzuordnen, brachte ihm zahlreiche Aufträge von wohlhabenden Privatsammlern ein. Einer davon war Graf Grigorij Stroganoff, für dessen berühmte Sammlung Pollak den Katalog herausgab. In einer weiblichen Statue, die der russische Adelige für eine Fälschung hielt und deshalb in einer Abstellkammer neben der Küche seines Palastes in der Via Gregoriana verwahrte, erkannte Pollak eine berühmte Athena.

Athena und Marsyas
Athena und Marsyas

Sie gehörte zur römischen Nachbildung der Athena-Marsyas-Gruppe des griechischen Bildhauers Myron und wurde schließlich mit ihrem Gegenstück – dem Marsyas – in den Vatikanischen Museen wiedervereint. Die Entdeckung im Stroganoff-Palast wurde gleichsam zu Pollaks Signatur. „Eine Abbildung der Athena mit den Initialen L.P. druckte der Archäologe auf alle von ihm aufbewahrten Zeichnungen Alter Meister", so De Giambattista.

Der Markt und die Ethik

Pollak war an sich davon überzeugt, dass Privatsammlungen die Leidenschaft für antike Kunst besser wachhielten als Museen. So bewies der Kunsthändler eine hohe Berufsethik, als er erkannte, dass eine Ergänzung der Laokoon-Gruppe in den päpstlichen Museen mit dem von ihm gefundenen fehlenden Arm einen Verdienstentgang rechtfertigen würde. Bei einer ersten Erkundung in den Vatikanischen Museen 1904 empfing ihn Bartolomeo Nogara, der Freund und zukünftige Direktor des Hauses. Pollaks Marmor-Arm schien auf den ersten Blick zu klein für die Skulptur. Man vermutete, er könne zu einer verkleinerten Replik des Laokoon gehören.

Die sieben Arme des Laokoon

Im Lauf der Jahrhunderte wurden angeblich mindestens sieben Arme angefertigt, um die Figurengruppe zu vervollständigen. Das griechische Original der Skulptur war zwischen 40 und 20 v. Chr. auf Rhodos entstanden. Als die berühmte römische Kopie 1506 im Weinberg ausgegraben und von Giuliano da Sangallo und Michelangelo mit dem von Plinius beschriebenen Werk identifiziert wurde, war die Statue im Wesentlichen intakt. Nur der rechte Arm des Priesters fehlte. Jahrhundertelang stritten Gelehrte darüber, ob der Arm ursprünglich hinter der Schulter angewinkelt oder in einer heroischen Geste von starker Dynamik ausgestreckt war.

Der Arm hinter dem Sockel

Einen ausgestreckten Arm zeigte die erste Ergänzung der Skulptur, sie bestand aus Terrakotta und war ein Werk von Fra' Giovanni Agnolo Montorsoli, einem Schüler Michelangelos. Einen anderen Arm, diesmal gebeugt, soll Michelangelo selbst angefertigt haben; er kommt dem Original am nächsten. Der Arm, der bis heute auf der Rückseite des Sockels des Laokoon montiert ist, stammt von Agostino Cornacchini aus dem 18. Jahrhundert.

Das Geschenk an den Papst

Der Arm von Pollak eröffnete die Debatte neu. Man erkannte bald, dass es die früheren Rekonstruktionsversuche waren, die zu dem Eindruck führten, das nun gefundene Fragment sei zu klein. Denn beim Anpassen der verschiedenen Arme an die Skulptur musste jeweils ein Stück Schulter abgetragen werden. Pollaks Arm erwies sich als der echte. Im Jahr 1906, genau 400 Jahre nach der Entdeckung des Laokoon, beschloss der jüdische Antiquitätenhändler, seinen Fund den päpstlichen Sammlungen zu schenken. Diese Geste festigte seine Verbindung zu Nogara und brachte dem Kunsthändler das von Papst Pius X. verliehene Großkreuz für Kultur ein, das heute im römischen Museum Barracco aufbewahrt wird.

Erster nicht konvertierter Jude mit Papst-Medaille 

Es war das einzige Mal bisher, dass einem nicht konvertierten Juden eine solche Ehre zuteil wurde, und auch eine der wenigen offiziellen Ehrungen, die Pollak zu Lebzeiten für seine Entdeckung erhielt. Er selbst hat „seinen" Arm übrigens nie mit dem Laokoon vereint gesehen: Die Zusammenführung von Skulptur und Fragment erfolgte erst 1957-59. Dabei wurden nach den bis heute gültigen Grundsätzen der modernen Restaurierung alle früheren, nicht originalen Ergänzungen entfernt. Ein anschauliches Zeugnis dafür sind die historischen Aufnahmen in der Fotothek der Vatikanischen Museen. In dieser Schatztruhe der Erinnerung liegen mehrere Hunderttausend Bilder, darunter Negative, Filme und Glasplatten. 9.000 davon sind online für alle zugänglich.

Laokoon-Dokumentation
Laokoon-Dokumentation

25 Tagebücher, um nichts zu vergessen

Jedes noch so unbedeutende Detail festhalten, alles dokumentieren, nichts vergessen: Das war ein Gebot in Ludwig Pollaks beruflicher Tätigkeit. Er selbst ließ unzählige Fotografien anfertigen und bot sie zusammen mit den Kunstwerken zum Verkauf an. Darüber hinaus führte Pollak akribische Aufzeichnungen über seine Tätigkeit. 25 handschriftliche Tagebücher des Antiquars liegen zusammen mit seiner Bibliothek und seinem Archiv im Barracco-Museum in Rom. Pollak war nach dem Tod des Sammlers Giovanni Barracco, eines Freundes, Ehrendirektor des Hauses geworden.

„Als Barracco am 29. Dezember 1913 auf dem Sterbebett Ludwig Pollak ausdrücklich bat, sich um sein Museum und seine Sammlung zu kümmern, wenn er nicht mehr da sein würde, stimmte Pollak natürlich zu, aber unter der Voraussetzung, dass er unentgeltlich arbeiten würde", erklärt Lucia Spagnuolo, verantwortliche Kuratorin des Giovanni-Barracco-Museums für antike Bildhauerkunst. „Gerade wegen dieser engen Beziehung, die zwischen den beiden bestand, hat das Museum auf Geheiß von Pollaks Alleinerbin, Frau Margarete Süßman Nicod, die Materialien aus Pollaks Nachlass aufbewahrt, d.h. Dokumente, Fotografien, handschriftliche Papiere, die jetzt zusammen mit seiner Bibliothek Teil des Pollak-Archivs sind".

Pollak-Tagebuch
Pollak-Tagebuch

Pollaks handgeschriebene Texte wurden von Margarete Merkel Guldan transkribiert und 1988 und 1994 in Auszügen veröffentlicht. Bald sollen sie zur Gänze publiziert vorliegen. Aus diesen Pollak-Texten ergibt sich Lucia Spagnuolo zufolge eine Erkenntnis: Die Erinnerung hat die Kraft, zu verhindern, dass alles umsonst war.

Der Nationalsozialismus erreicht Rom

Pollak wurde 1935, noch vor dem Erlass der faschistischen Rassengesetze, in Rom aus der Biblioteca Hertziana ausgeschlossen, dem deutschen kunsthistorischen Institut in Rom. Die Briefe, die er in leidenschaftlichem Ton an den neuen Direktor Leo Bruhns richtete, dokumentierte er für sich selbst, indem er sie abfotografierte. „Diese Briefe an Leo Bruhns zeugen von einer der dunkelsten Seiten in der Geschichte unserer Bibliothek", sagt Tatjana Bartsch, stellvertretende Leiterin der Fotothek der Hertziana, wo die Originale der Briefe aufbewahrt werden. Es ist bezeichnend, was Pollak am 19. April 1933 in seinem Tagebuch notierte, als an der Hertziana ein Treffen zu Ehren Hitlers am Tag vor dessen Geburtstag stattfand: „Hitler in der Hertziana (!!!) Die Stiftung der Jüdin Henriette Hertz!!!!" „Er konnte nicht glauben, dass eine solche Feier an einem ihm so wichtigen Ort in Rom stattfinden würde", sagt Bartsch. Die Hertziana war nur zwanzig Jahre zuvor von der deutschen jüdischen Sammlerin und Philantropin Henriette Hertz gegründet worden.

Tatjana Bartsch in der Fotothek der Hertziana
Tatjana Bartsch in der Fotothek der Hertziana

Isoliert und diskriminiert

Von 1933 an erfuhr Pollak überall in offiziellen deutsch-römischen Kreisen Verachtung und Beleidigung. Ab 1938 erhielt er wie alle anderen Juden auch Hausverbot am Deutschen Archäologischen Institut in Rom. Er flüchtete sich immer tiefer in seine Liebe zu Kunst und Literatur, besonders zu seinem verehrten Goethe, dem er auf eigene Kosten einen Band in italienischer und deutscher Sprache widmete. Binnen weniger Jahre fand sich Pollak isoliert, nur wenige frühere Kollegen besuchten ihn weiterhin, so der Kunsthistoriker Denis Mahon, mit dem er die Leidenschaft für die Barockkunst teilte. Die Ewige Stadt verlor die einladende Wärme, die den jüdischen Antikenfachmann 1893 dazu gebracht hatte, sie zu seiner Wahlheimat zu machen.

„Sie werden nicht kommen, um mich zu holen"

Im September 1943 besetzten die Nazis Rom. Bis zum Schluss weigerte sich Pollak zu glauben, dass die Gestapo ihn abholen würde. Warnungen überhörte er, selbst wenn sie von jüdischen Freunden wie Hermine Speier kamen, die seit 1934 die Fotothek der Vatikanischen Museen leitete, oder von dem deutschen Kunsthistoriker und Nazigegner Wolfgang Fritz Volbach, der in jenen Jahren ebenfalls im Vatikan beschäftigt war. Pollak wohnte mit seiner Familie im Palazzo Odescalchi im Zentrum Roms, bei der Piazza Venezia. Er wähnte sich sicher.

Ludwig Pollak mit seiner Familie: seine Frau Julia Pollak, geb. Süßmann, sowie Susanna Pollak, ganz rechts, und Wolfgang Pollak, Mitte. Die älteste Tochter Angelina, ganz links, starb 1942. Foto von Francesco Reale, Roma 1921, Museo Barracco, Archivio Pollak 46.2.1.
Ludwig Pollak mit seiner Familie: seine Frau Julia Pollak, geb. Süßmann, sowie Susanna Pollak, ganz rechts, und Wolfgang Pollak, Mitte. Die älteste Tochter Angelina, ganz links, starb 1942. Foto von Francesco Reale, Roma 1921, Museo Barracco, Archivio Pollak 46.2.1.

Die Ablehnung des Angebots, im Vatikan unterzukommen

Im Vatikan sorgte man sich mehr um den jüdischen Kunsthändler, als er selbst es tat. Auf Vermittlung von Bartolomeo Nogara wurde für Pollak, seine Frau Julia Süßmann und seine beiden erwachsenen Kinder sogar eine Unterkunft im Vatikan organisiert. Am 15. Oktober 1943 fuhr im Palazzo Odescalchi ein Wagen vor, der die Familie jenseits des Tibers bringen sollte, in Sicherheit. Doch Pollak schlug die Einladung aus.

Palazzo Odescalchi. Hier wohnte Familie Pollak, von hier wurde sie nach Auschwitz deportiert
Palazzo Odescalchi. Hier wohnte Familie Pollak, von hier wurde sie nach Auschwitz deportiert

In den Gaskammern von Auschwitz

Am nächsten Morgen fiel der 75 Jahre alte Ludwig Pollak mit seiner Familie und tausend anderen römischen Juden der Razzia der Nazis zum Opfer. Ziel: Auschwitz. In den „Arolsen Archives“ im deutschen Bad Arolsen befinden sich Federica De Giambattista zufolge 13 Dokumente, die die Deportation der vier Mitglieder der Familie Pollak mit einem Sonderzug nach Deutschland bestätigen. „Julia Süßmann wurde dem Lager Birkenau zugeteilt, wo sie kurz darauf starb, während Ludwig, Susanna und Wolfgang Pollak im Stammlager Auschwitz umkamen.“

Anfang des Briefes von Bartolomeo Nogara zur Befreiung von Ludwig Pollak. ASMV, Carte Nogara, b. 1, fasc. 3, sotto fasc. 9, 22 ott. 1943
Anfang des Briefes von Bartolomeo Nogara zur Befreiung von Ludwig Pollak. ASMV, Carte Nogara, b. 1, fasc. 3, sotto fasc. 9, 22 ott. 1943

Nogaras Versuche, ihn vor dem Tod zu bewahren

„Bartolomeo Nogara bemühte sich bis zuletzt, Pollaks Leben zu retten", betont Giandomenico Spinola. „Er griff nicht nur ein, als Pollak aus seinem Haus geholt werden sollte, sondern auch nach seiner Festnahme. Er setzte sich beim vatikanischen Staatssekretariat für seine Freilassung und die seiner Familie ein." Dies geht aus Nogaras Unterlagen hervor, die in den Vatikanischen Museen aufbewahrt werden. In einem Brief an die deutsche Botschaft schrieb der Museumsdirektor: „Da die getroffene Regelung widerrufen werden kann, bittet der Unterzeichnende die höheren deutschen Behörden um eine Ausnahme zugunsten von Herrn Pollak und seiner Familie... Er und seine drei Angehörigen sollen in ihr Zuhause zurückgebracht werden."

Päpstliche Museen im Zweiten Weltkrieg
Päpstliche Museen im Zweiten Weltkrieg

In den Museen des Papstes versteckte Flüchtlinge

„In Kriegszeiten fanden viele Menschen Unterschlupf in Kirchen und Klöstern, aber auch innerhalb des Vatikanstaates“, erklärt Spinola unter Verweis auf Papst Pius XII. Pollak habe die Einladung erhalten, im Vatikan zu leben und sei niemals dazu aufgefordert worden, im Gegenzug etwa zum Christentum überzutreten. Unter anderem, um Flüchtlingen Unterschlupf zu gewähren und Lebensmittel zu beschaffen, seien sogar einige Ausstellungsräume in den Museen geräumt und mit Feldbetten ausgestattet worden. „Das Chiaramonti-Museum und die Galleria Lapidaria wurden zu einem Schutzraum. Sicherlich hat der Vatikan viel diplomatische und praktische Arbeit geleistet", so Spinola.

Die Gestapo habe unterdessen auch einige von Pollaks Tagebüchern beschlagnahmt, so der stellvertretende künstlerische und wissenschaftliche Direktor der Vatikanischen Museen weiter. „Diejenigen, die nach 1933 entstanden waren, sind verschwunden, was darauf hindeutet, dass sie möglicherweise Schriften enthielten, die von den Nazis als unbequem angesehen wurden".

Erinnerung an Ludwig Pollak

„Bis vor einigen Jahrzehnten wurde die Affäre Pollak bei uns in der Biblioteca Hertziana unter den Teppich gekehrt", räumt Tatjana Bartsch ein. „Jetzt ändert unser Institut seine Politik. Wir sind nicht schuldig an dem, was so vielen Juden widerfahren ist, aber wir können diese dunkle Zeit nicht auslöschen. Als ich mich mit Pollak beschäftigte, dachte ich, wenn wir schon nicht an seinem Grab beten können, so können wir ihm wenigstens einen Platz in unserem Gedächtnis zurückgeben."

Stolpersteine für Familie Pollak in Rom
Stolpersteine für Familie Pollak in Rom

Der Stein und die Stolpersteine

So rief die Fotothekarin der Hertziana am Institut eine Spendenaktion ins Leben. 2022 wurden vor dem Palazzo Odescalchi vier Stolpersteine verlegt: kleine Messingtafeln mit den Namen und den Geburts- und Sterbedaten von Ludwig, seiner Frau Julia und ihren Kindern Wolfgang und Susanna Pollak. Unter den Ordnern der Hertziana-Bibliothek befindet sich auch ein „Stolperschachtel“ genannter mit schwarzem Etikett und weißem Aufdruck: „Ludwig Pollak. Geboren in Prag 1868, deportiert und ermordet in Auschwitz 1943".

Stolperschachtel an der Bibliotheca Hertziana
Stolperschachtel an der Bibliotheca Hertziana

Ein Arm der Erinnerung

Wach bleiben Pollaks Geschichte und sein Andenken auch in den Vatikanischen Museen, im Laokoon selbst. Dank des jüdischen Kunsthändlers wurde die berühmteste Statue der klassischen Antike in ihrer authentischen Botschaft wiederhergestellt: „Hier steht kein Held, der mit ausgestrecktem Arm siegreich dem Tod entgegentritt", so Giandomenico Spinola, „sondern hier steht ein Mann ohne Hoffnung, der sich mit angewinkeltem Arm gegen den Angriff des Ungeheuers verteidigt. So wie Pollak."

Bearbeitung und Übersetzung: Gudrun Sailer 

(vatican news – gs)

 

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14. Mai 2024, 08:42