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Archivakten aus der Zeit des Pontifikats von Pius XII. (1939-1958) Archivakten aus der Zeit des Pontifikats von Pius XII. (1939-1958)  (AFP or licensors)

Vatikan-Archivar: Schweigen zum Holocaust war im Vatikan Selbstzensur

Dass Pius XII. und der Heilige Stuhl zum Massenmord an den Juden im Zweiten Weltkrieg schwiegen, war eine Form von Selbstzensur, die damals im Vatikan als notwendig erachtet wurde. Das sagte der Vatikan-Archivar Giovanni Coco bei einem Kongress vergangene Woche über Papst Pius XII. an der P?pstlichen Gregoriana-Universit?t in Rom.

Gudrun Sailer - Vatikanstadt

Coco ist langjähriger Archivar im Vatikanischen Apostolischen Archiv und hat jüngst ein in den nun freigegebenen Beständen vorgelegt. Wir sprachen mit ihm nach dem Kongress ?

Hier unser Interview mit Vatikan-Archivar Giovanni Coco zum Hören:

Das Schweigen des Papstes und des Heiligen Stuhls zur Judenvernichtung im Nationalsozialismus: Inwieweit war es die Folge einer Form von Selbstzensur?

Giovanni Coco: Sicherlich auch eine Form der Selbstkontrolle. Es waren Entscheidungen, die mit Bedacht getroffen wurden, sicher auch im Bewusstsein der Verantwortung für die Folgen für die vom Naziregime verfolgten polnischen Katholiken und für das Schicksal der deutschen Kirche selbst, die unter dem Naziregime kein gutes Leben hatte. Die Selbstzensur zur Zeit der Besetzung Roms durch Nazi-Deutschland 1943-1944 ging so weit, dass der Papst sich nicht einmal verteidigte gegen die verleumderischen Anschuldigungen, er habe die Deportation der Juden aus Rom unterstützt. Zwar bereitete das Staatssekretariat eine Protestnote gegen diese Falschnachricht vor, aber im letzten Moment wurden die Worte des Protestes gestrichen. ?Sie werden, wenn überhaupt, mündlich mitgeteilt werden“, vermerkte Monsignore Montini. 

Von welchem Datum sprechen wir?

Giovanni Coco: Vom 23. Oktober 1943, sieben Tage nach dem tragischen Tag der Razzia im Ghetto, zu dem der Heilige Stuhl geschwiegen hat.

?Die Standardlehre in Zeiten der Verfolgung: lieber weniger als mehr sagen“

Inwieweit spiegelt diese Form der Selbstzensur die allgemeine diplomatische Politik des Heiligen Stuhls schon vor dem Holocaust wider?

Giovanni Coco: Sie gehört zunächst zu einer Schule der diplomatischen Ausbildung. Eugenio Pacelli, Pius XII., lernte das Handwerk des Diplomaten des Heiligen Stuhls von alten Lehrmeistern, die lehrten, lieber ein Wort zu wenig als ein Wort zu viel zu sagen. Die Standardlehre in Zeiten der Verfolgung: lieber weniger als mehr sagen. Offizielle Proteste liefen hauptsächlich über diplomatische Dokumente. Man glaubte, man könne in einer kleinen Protestnote sein ganzes Bedauern, seine ganze Missbilligung ausdrücken. Es war eine Welt, die an die Diplomatie glaubte. Aber sie prallte auf eine Welt wie die der totalitären Regime, die Abkommen und diplomatischen Noten als "chiffon de papier" betrachteten: als Müll.

Wie genau lässt sich denn heute im Archiv nachvollziehen, wann der Papst und der Heilige Stuhl im Bild waren über die Vernichtung der Juden?

Giovanni Coco: Den genauen Zeitpunkt werden wir nie erfahren. Wir wissen nur, was die Dokumente bezeugen. Und hier zeigt sich eine Steigerung: Ab Januar 1940 treffen im Vatikan Berichte über die systematische Verfolgung polnischer Juden in dem von der Wehrmacht besetzten Territorium in Polen ein. Und diese Nachrichten häufen sich. Der Zeitpunkt, an dem Nachrichten über Verfolgungen abgelöst werden von Nachrichten über systematische Massaker und Vernichtung, lässt sich gegen Ende 1941 ansetzen. Ab Sommer 1942 wird man sich im Vatikan bewusst, dass es sich bei dem, was in Osteuropa geschieht, nicht mehr nur um heftige Verfolgungen oder um vereinzelte Massaker handelt. Es handelt sich um einen komplexeren Plan, um eine Entwicklung hin zur Vernichtung.

?Das Wort "Vernichtung" hinterlässt Spuren im Staatssekretariat“

Das Wort Vernichtung – auf Italienisch: ?sterminio“ – taucht in den Dokumenten des Apostolischen Archivs des Vatikans dann gehäuft auf. Können Sie das nachzeichnen?

Giovanni Coco: Das erste Mal taucht dieses Wort in einer langen diplomatischen Note des polnischen Botschafters Kazimierz Papée an das Staatssekretariat mit dem Titel "L'occupation exterminatrice de la Pologne", die vernichtende Besetzung Polens, auf. Darin steht alles. Und er bezog sich fast ausschließlich auf das Leiden des polnischen Volkes. Das Wort "Vernichtung" hinterlässt Spuren im Staatssekretariat. Es ist ein schwieriges Wort, besonders für eine Diplomatie, die immer noch daran dachte, den Krieg mit einem Kompromiss zu beenden. In seiner Antwort an Botschafter Papée streicht Kardinalstaatssekretär Maglione im Protokoll das Adjektiv "vernichtend" und lässt nur "Die Besetzung Polens" stehen. Das ist bezeichnend.

Und es ist ebenso bezeichnend, dass dieses Wort im September 1942 wieder auftaucht. Monsignore Angelo dell'Acqua (Minutant in einer Abteilung des Staatssekretariats) spielt die Nachrichten über die stattfindende Shoah herunter, weil, wie er behauptet, Juden zu Übertreibungen neigen. Anders Monsignore Giovanni Battista Montini, der spätere Papst Paul VI., Substitut im Staatssekretariat und die rechte Hand von Pius XII. in vielen Dingen. Er nutzt in einer internen Notiz die Formulierung "die Vernichtung, die an den Juden vorgenommen wird". Interessanterweise wird das Wort Vernichtung, das zuerst von den Polen für die Polen verwendet wurde, vom Staatssekretariat und von Montini nicht für die Polen, sondern für die Juden verwendet.

?Auch das Werben um Nachsicht für das besiegte Deutschland hat mit dieser Geschichte des Schweigens zu tun“

Das Schweigen zum Holocaust endet nicht mit dem Krieg. Auch noch danach schweigt der Vatikan dazu. Warum?

Giovanni Coco: Ja, ich spreche hier gerne von Schweigen im Plural, denn es gibt nicht nur einen, sondern viele Gründe dafür. Nach dem Krieg entstehen sofort neue Herausforderungen. Die erste ist die jüdische Auswanderung nach Palästina und die Gründung des Staates Israel, was zu sehr starken Spannungen führt. Eine Gruppe von Überlebenden der jüdischen Vernichtungslager erbittet eine Audienz im Vatikan, um dem Papst zu danken. Pius XII. empfängt sie sehr freundlich und hält eine kurze Rede. Er erinnert an ihr Leid, benutzt aber nicht das Wort "Vernichtung" oder andere schwerere Worte. Der Hintergrund ist, dass viele der Anwesenden auch an einer Konferenz für die jüdische Auswanderung nach Palästina teilnahmen. Es ist ja so: Die Geschichte verunreinigt oft die einzelnen Ereignisse, sie vermischen sich miteinander. Auch das Werben um Nachsicht für das besiegte Deutschland hat mit dieser Geschichte des Schweigens zu tun.

Das heißt?

Giovanni Coco: Betrachten wir dazu Äußerungen von Johannes Baptist Neuhäusler, Priester und später Weihbischof von München – ein Bekenner des Glaubens, der als Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus im KZ Dachau gelandet war. Nach dem Krieg hat er den Vatikan, vorsichtig zu sein mit Verurteilungen des Holocaust, weil das Deutschland schaden könne. Neuhäusler zeichnete das Bild von zurückkehrenden Holocaust-Überlebenden, die mit Hilfe der Alliierten Druck aufbauten, um das besiegte Deutschland massiv zu schwächen. Dieses Narrativ war falsch, fand aber im Vatikan Gehör. Denn der da sprach, war ein Priester, der Dachau überlebt hatte, und ihm glaubte man.

?Tatsächlich lastete auf diesem Schweigen ein antijüdisches Vorurteil“

Sehen Sie anhand der Dokumente einen Zusammenhang zwischen dem Schweigen zum Holocaust aus der Kurie und einem dort verbreiteten antijüdischen Vorurteil?

Giovanni Coco: Tatsächlich lastete auf diesem Schweigen ein antijüdisches Vorurteil, und es bestand im Vatikan noch eine Weile fort. Erst langsam bildete es sich zurück, auch dank Pius XII. selbst, obwohl er diese Reifung nicht vervollständigen konnte - dieses antijüdische Vorurteil existierte, selbst wenn es Anstöße gab, es zu überwinden, denken Sie an Pater Augustin Bea, den persönlichen Beichtvater von Pius XII. Dennoch bleibt dieses Schweigen bestehen. Aber es lässt jene, die sich dafür entschieden haben, nicht gleichgültig. Mein Eindruck aus einigen Hinweisen in seinen eigenen Manuskripten und Anmerkungen ist, dass Pius XII. das alles bewusst erlebt und als Leiden in sich getragen hat. Und selbst für uns, die wir zeitlich entfernt sind, hinterlässt das Sehen, Lesen und Verstehen dieser Ereignisse der Vergangenheit ein Gefühl der Bitterkeit.

?Was wir nicht tun sollten ist, uns aus heutiger Warte an die Stelle der Protagonisten der Vergangenheit zu setzen“

In der Tat, es wäre uns wohler, hätte Papst Pius XII. öffentlich gegen die Vernichtung der Juden protestiert …

Giovanni Coco: Aber es steht uns im Grund nicht zu, darüber zu urteilen. Das Urteil liegt bei Gott. Unser Part ist es, die historischen Ereignisse anhand der Dokumente so weit wie möglich zu rekonstruieren, und wir können eine moralische Vorstellung von den Protagonisten entwickeln. Was wir nicht tun sollten ist, uns aus heutiger Warte an die Stelle der Protagonisten der Vergangenheit zu setzen. Wir müssten in ihrer Zeit mit ihrer Bildung leben, um urteilen zu können. Genauso wie unsere Enkelkinder uns eines Tages nach unserer Zeit beurteilen müssen und nicht nach der ihren.

(vatican news – gs)

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22. Oktober 2023, 09:53