Liturgie vom Leiden und Sterben Christi: Wortlaut der Predigt
P. Raniero Card. Cantalamessa, OFMCAP
Seit zweitausend Jahren verkündet die Kirche am heutigen Tag den Tod des Gottessohnes am Kreuz. In jeder Messe sagen wir nach der Konsekration: ?Deinen Tod, o Herr, verkünden wir, und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit!“
Seit eineinhalb Jahrhunderten wird in unserer säkularisierten westlichen Welt jedoch ein anderer Tod Gottes verkündet. Wenn man im Bereich der Kultur vom ?Tod Gottes“ spricht, ist dieser andere – ideologische, nicht historische – Tod Gottes gemeint. Ja, um mit der Zeit zu gehen, haben sich einige Theologen beeilt, darauf eine Theologie aufzubauen: ?Die Theologie des Todes Gottes“.
Wir können nicht so tun, als ob es dieses andere Narrativ nicht geben würde. Dieser andere Tod Gottes hat seinen umfassendsten Ausdruck in der bekannten Ankündigung gefunden, die Nietzsche dem ?tollen Menschen“ in den Mund legt, der atemlos auf dem Marktplatz ankommt:
?Wo ist Gott? – rief er – ich sage es euch! Wir haben ihn getötet! Ihr und ich! Es gab nie eine größere Tat, - und wer immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!“(Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, 1882)
In der Logik dieser Worte - und, wie ich meine, in der Erwartung ihres Verfassers - lag, dass die Geschichte nach ihm nicht mehr in vor und nach Christus, sondern in vor und nach Nietzsche unterteilt sein würde. Offenbar wird nicht das Nichts an die Stelle Gottes gesetzt, sondern der Mensch, genauer gesagt der ?Übermensch“. Und vor diesem neuen Menschen muss man nun – mit einem Gefühl der Selbstzufriedenheit und des Stolzes, nicht des Mitleids – ausrufen: ?Ecce homo!“ (vgl. Friedrich Nietzsche, Ecce homo, wie man wird, was man ist). Seht den wahren Menschen! Es wird jedoch nicht lange dauern, bis man erkennt, dass der Mensch, wenn er allein gelassen wird, nichts ist.
Was haben wir je getan, um diese Erde von den Fesseln ihrer Sonne zu lösen? Wo kreist sie jetzt? Wohin bewegen wir uns? Weg von allen Sonnen? Ist das, was wir erleben, nicht ein ewiger Sturzflug? Rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Hoch und ein Tief? Irren wir nicht durch ein unendliches Nichts?
Die stillschweigende beruhigende Antwort des ?tollen Menschen“ auf diese Fragen lautet: ?Nein, wir werden nicht durch ein unendliches Nichts irren, denn der Mensch wird die Aufgabe erfüllen, die bisher Gott zugewiesen wurde!“ (vgl. Friedrich Nietzsche, Ecce homo; 1888). Unsere Antwort als Gläubige lautet stattdessen: ?Ja, genau das ist geschehen und geschieht immer noch! Wir irren durch ein unendliches Nichts“. Es ist bezeichnend, dass wir gerade im Kielwasser des Verfassers dieser Ankündigung dazu übergegangen sind, die menschliche Existenz als ein ?Sein-für-den-Tod“ zu definieren und alle vermeintlichen Möglichkeiten des Menschen als von Anfang an nichtig zu betrachten.
?Jenseits von Gut und Böse“ war ein weiterer Schlachtruf des Philosophen! Aber jenseits von Gut und Böse gibt es nur den ?Willen zur Macht“, und wir wissen, wohin der führt…
Es ist uns nicht erlaubt, über das Herz des Menschen zu urteilen, das nur Gott kennt. Auch der Autor dieser Ankündigung hat in seinem Leben viel Leid erfahren, und das Leiden verbindet uns vielleicht mehr mit Christus, als uns Schmähreden von ihm trennen. Das Gebet Jesu am Kreuz: ?Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lk 23,34), wurde nicht nur für die gesprochen, die an jenem Tag auf dem Kalvarienberg anwesend waren...
Da kommt mir ein Bild in den Sinn, das ich manchmal selbst beobachten konnte - und das, wie ich hoffe, in der Zwischenzeit für den Autor dieser Aussagen wahr geworden ist (Anm: Nietzsche): Ein wütendes Kind versucht, seinen Vater mit Fäusten ins Gesicht zu schlagen und zu kratzen, bis es, nachdem seine Kräfte erschöpft sind, weinend in die Arme seines Vaters sinkt, der es beruhigt und an seine Brust drückt.
Wir sollten also wie gesagt nicht über die Person urteilen, welche nur Gott kennt. Über die Folgen, die seine Ankündigung hatte, können und müssen wir jedoch urteilen. Sie hat auf unterschiedlichste Weise und unter den verschiedensten Namen Ausdruck gefunden, ja wurde sogar zu einer Mode, einer Atmosphäre, die in den intellektuellen Kreisen der ?postmodernen“ westlichen Welt vorherrscht. Der gemeinsame Nenner ist ein totaler Relativismus in allen Bereichen: Ethik, Sprache, Philosophie, Kunst und natürlich Religion. Nichts hat mehr eine feste Form, alles ist flüssig, geradezu verschwommen. In den Tagen der Romantik schwelgte man in Melancholie, heute im Nihilismus!
Als Gläubige ist es unsere Pflicht zu zeigen, was hinter oder unter dieser Ankündigung liegt: nämlich das Aufflackern einer uralten Flamme, der plötzliche Ausbruch eines Vulkans, der seit Anbeginn der Welt nie erloschen ist. Auch das menschliche Drama hatte seinen ?Prolog im Himmel“, in jenem ?Geist der Verneinung“, der nicht akzeptiert, in der Gnade eines anderen zu existieren. Seitdem hat er nichts anderes getan, als Anhänger für seine Sache zu rekrutieren, allen voran die einfältigen Adam und Eva: ?Ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse“ (Gen 3,5).
Für den modernen Menschen scheint dies alles nur ein ätiologischer Mythos zu sein, um das Böse in der Welt zu erklären. Und – in dem positiven Sinn, den man dem Mythos heute gibt – ist es das tatsächlich! Aber die Geschichte, die Literatur und unsere eigene Erfahrung sagen uns, dass hinter diesem ?Mythos“ eine transzendente Wahrheit steckt, die uns keine historische Erzählung oder philosophische Argumentation vermitteln könnte.
Gott, der unseren Hochmut kennt, ist uns zu Hilfe gekommen, indem er sich selbst vor unseren Augen entäußert hat. Jesus Christus
(...) war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest,
Gott gleich zu sein,
sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave?
und den Menschen gleich.
Sein Leben war das eines Menschen;
er erniedrigte sich
und war gehorsam bis zum Tod,
bis zum Tod am Kreuz
(Phil 2, 6-8)
?Gott? Wir waren es, die ihn getötet haben: du und ich“, schreit der ?tolle Mensch“. Diese schreckliche Sache hat sich tatsächlich einmal in der Menschheitsgeschichte ereignet, aber in einem ganz anderen Sinne als dem, den er meinte. Denn es ist wahr, Brüder und Schwestern: Wir – du und ich – waren es, die Jesus von Nazareth getötet haben! Er starb für unsere Sünden und für die Sünden der ganzen Welt (1Joh 2,2)! Aber seine Auferstehung gibt uns die Gewissheit, dass dieser Weg dank unserer Reue nicht zum Abgrund, sondern zu jener ?Apotheose des Lebens“ führt, die man anderswo vergeblich sucht.
Warum sprechen wir in der Karfreitagsliturgie darüber? Nicht, um Atheisten davon zu überzeugen, dass Gott nicht tot ist! Die berühmtesten unter ihnen haben das in dem Moment, sie ihre Augen vor dem Licht – oder besser: vor der Dunkelheit – dieser Welt für immer schlossen, ganz von selbst erkannt. Und für die unter ihnen, die noch am Leben sind, braucht man ganz andere Mittel als die Worte eines alten Predigers. Mittel, an denen es der Herr jenen nicht mangeln lassen wird, deren Herzen für die Wahrheit offen sind – worum wir Gott in den nun folgenden Fürbitten bitten werden.
Nein, der eigentliche Zweck ist ein anderer; er besteht darin, die Gläubigen – vielleicht nur ein paar Universitätsstudenten – davor zu bewahren, in diesen Strudel des Nihilismus hineingezogen zu werden, der das wahre ?schwarze Loch“ des geistigen Universums ist. Nicht umsonst hat schon Dante Alighieri gewarnt:
O Christen, was ihr tut, das tut besonnen!
Seid nicht der Feder gleich in jedem Winde,
Und wähnet nicht, Euch wasche jedes Wasser.
(Dante, Paradies, Fünfter Gesang, 73-75)
Lasst uns mit bewegter Dankbarkeit und überzeugter denn je die Worte wiederholen, die wir in jeder Messe sprechen:
Deinen Tod, o Herr, verkünden wir,
und deine Auferstehung preisen wir,
bis du kommst in Herrlichkeit!
(vatican news)
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