Papst Franziskus und Missbrauch: ?Eine steile Lernkurve“
Anne Preckel und Stefan Kempis – Vatikanstadt
Zollner würdigte, dass Franziskus schon bei der ersten Generalaudienz seines Pontifikats das Thema Missbrauch angesprochen habe. Vor allem im Nachgang des Kinderschutz-Gipfels im Vatikan 2019 habe der Papst in dieser Hinsicht viel bewegt. Mit seiner Empathie für Missbrauchs-Betroffene sei Franziskus ?ein tatsächliches Modell“.
Für Zollner ergeben sich aus den Missbrauchsskandalen entscheidende Anfragen an die Kirche, was ihre Sendung, ihr Selbstverständnis und ihre künftigen Prioritäten betreffe. Zwar sei Missbrauch ?bei weitem nicht alles, was in der Kirche zu diskutieren ist“. Doch bündelten sich hier ?alle Zukunftsfragen der Kirche“, etwa der Umgang mit Macht oder das Entstehen ?einer anderen Art von Spiritualität“.
Jorge Bergoglio, damals Erzbischof von Buenos Aires, wurde am 13. März 2013 zum Papst gewählt. Der Jesuit Zollner ist Theologe und Psychologe; er gehört zur vatikanischen Kinderschutzkommission und leitet das Institut für Anthropologie an der päpstlichen Universität Gregoriana in Rom.
Interview
Zehn Jahre Papst Franziskus: Pater Zollner, was war denn aus Ihrer Sicht das wichtigste Signal oder die wichtigste Maßnahme dieses Papstes gegen Missbrauch und sexualisierte Gewalt in der Kirche?
?Für mich war zweifellos das Wichtigste, dass er das Thema sexuelle Gewalt in der Kirche in seiner ersten Audienz auf dem Petersplatz schon angesprochen hat. Bei der allerersten öffentlichen Audienz wurde das Thema erwähnt, und das hat gezeigt, dass es für ihn auf der Tagesordnung steht.
Das Zweite: Er hat dann 2014 eine Gruppe von Betroffenen von Missbrauch empfangen, bei sich zu Hause sozusagen, in der Casa Santa Marta. Er sprach mit zwei Betroffenen aus Deutschland in Einzelgesprächen, wo ich als Übersetzer mit dabei war. Und das war für mich sehr beeindruckend, weil die beiden Personen sehr unterschiedlich agiert und reagiert haben, aber der Papst mit einer großen Empathie und mit einem wirklich herzlichen Zuhören mit dem Herzen dabei war.
Ich glaube drittens, dass er mit der Einberufung des Kinderschutzgipfels im Februar 2019 auch der Tatsache Rechnung getragen hat, dass wir mittlerweile, nachdem wir uns in der Kirche schon über Jahrzehnte auch mit dem Thema auseinandersetzen, auf einem anderen Bewusstseinsstand sind. Dass es nicht nur um Einzel-Präventionsmaßnahmen oder die Verurteilung von einem Täter oder einem Vertuscher geht, sondern dass es um die institutionelle Verantwortung, um die systemische Frage geht, also: Wie und wo sind im System Kirche die Haken, die verhindern, dass es zu Missbrauch kommt? Die dafür sorgen, dass Betroffene wirklich angehört werden und entsprechend begleitet werden, und dass diejenigen, die vertuschen oder leugnen und damit zu weiterem Missbrauch beitragen, auch zur Rechenschaft gezogen werden?“
Eine frühe Amtshandlung des Papstes war die Einrichtung der Päpstlichen Kinderschutzkommission 2014, in die Franziskus auch Betroffene geholt hat. Wie wichtig war das?
?Das war sicherlich insofern ein sehr wichtiger Schritt, als es gezeigt hat, dass das Thema auch auf der Ebene der Kirchenleitung angekommen ist und verankert wird. Und die Berufung von Betroffenen – zunächst Betroffenen, die auch als solche bekannt waren, namentlich dann auch in weiteren Zusammensetzungen des Gremiums Betroffene, die namentlich von sich aus nicht genannt werden wollten – hat auch gezeigt, dass die Stimme der Betroffenen auch in dieser Art von Gremium und in dieser Art von aufmerksamkeitsfördernden Maßnahmen zentral ist.“
Ein weiteres Zeichen hat der Papst gesetzt mit dem ersten kirchlichen Missbrauchsgipfel, den Sie bereits erwähnt haben, 2019im Vatikan. Was hat dieses Treffen gebracht?
?Das Treffen hat mehr gebracht, als manche gesehen haben und bis heute sehen. Es hat ein neues Gesetz gebracht, das weltkirchlich zum ersten Mal einen Schritt tut hin zu einer Rechenschaftspflicht, wie man das auf Deutsch nennt. Wo es nicht zunächst um die Verhinderung oder Bestrafung von Missbrauch geht, dazu gab es ja schon Leitlinien bzw. Gesetze. Sondern dass definiert wurde, wie Bischöfe, Provinziale oder Generalobere von Ordensgemeinschaften, die nicht das tun, was eben die Normen und die Gesetze der Kirche selber vorschreiben, zur Rechenschaft gezogen werden – wenn sie nicht kooperieren. Wenn sie nicht das tun, was von ihnen von ihren Amtspflichten her gefordert ist. Das war ein bei weitem noch nicht genügender, aber immerhin ein erster Schritt hinein in ein Bewusstsein, dass auch Kirchenverantwortliche sich der Verantwortung stellen müssen und auch der Kirchenöffentlichkeit gegenüber Rechenschaft ablegen müssen.
Daneben hat es dann auch weitere Veränderungen im Gesetzesapparat der Kirche gegeben: dass zum Beispiel der Bereich der geistlichen Gewalt auf die Tagesordnung kam. Dass Missbrauch nicht nur von Kindern und Jugendlichen nun im Fokus steht, sondern eben auch von denen, die man auf Deutsch schutzbefohlene Erwachsene nennt… auch wenn ich sagen muss, dass der Begriff in der kirchlichen Rechtsprechung wie auch in weiten Teilen der staatlichen Rechtsprechung so vage gefasst ist, dass es letztlich nicht einfach ist, zu definieren, was das genau heißt. Aber es ist jedenfalls die Möglichkeit da, dass man darüber nachdenkt, dass man redet, dass man diskutiert und dass es weiterentwickelt wird. Das waren zwei wichtige Punkte.
Ein Drittes war, dass infolge dieses Kinderschutzgipfels von 2019 das ?päpstliche Geheimnis‘ keine Anwendung mehr findet, wenn es zum Beispiel um die Herausgabe von Akten an staatliche Behörden geht. Und schließlich, dass, was Missbrauchsdarstellungen im Internet angeht, das Alter von 14 auf 18 angehoben wurde, so wie das auch in den allgemeinen staatlichen Gesetzen meistens ist.“
Stichwort Rechenschaftspflicht: Wurde da durchgegriffen, auch bei Kirchenoberen infolge des Erlasses Vos estis lux mundi?
?Vos estis lux mundi hat zu tatsächlich zu Entscheidungen und zu Sanktionen gegen Kirchenobere geführt und zu einer Reihe von Rücktritten. Zum Beispiel sind in Polen etwa zehn Bischöfe aufgrund eines solchen Verfahrens zum Rücktritt gezwungen worden. Allerdings muss man auch sagen, dass es, wie so oft in der Kirche, ein Flickenteppich ist. Dass es in einigen Ländern, aus welchen Gründen auch immer, eine strikte Anwendung findet, in anderen nicht. Und vor allem, dass man dann eben nicht weiß, warum in dem einen Land so und in dem anderen so. Abgesehen davon, dass es sich um verschiedene Akteure handelt, zum Beispiel die jeweiligen Erzbischöfe oder die Bischofskonferenzen: Da weiß man dann letztlich nicht, warum in dem einen Fall so entschieden wird und in dem anderen ganz anders.“
Wie hat sich denn die Wahrnehmung von Missbrauchsverbrechen in der Kirche in den letzten zehn Jahren verändert? Auch beim Papst selbst und im Vatikan?
?Der Papst hat auch öffentlich mehrfach gesagt, dass er da eine steile Lernkurve hinter sich hat und vielleicht auch noch vor sich hat. Aber er hat sich vor allem im Jahr 2018, nachdem er in Chile gewesen war und die Anschuldigungen von Betroffenen gegen die Kirchenleitung dort mit einem sehr harschen Urteil abgebügelt hatte, auf einen persönlichen Weg gemacht, und seitdem steht er ja auch im Kontakt mit Betroffenen – in diesem erwähnten Fall jetzt aus Chile –, die regelmäßig bei ihm sind und denen er auch zuhört, die auch weiter in sehr engem Kontakt sind mit ihm. Das ist ein Beispiel dafür, dass der unmittelbare Kontakt und das Zuhören und das Zusammensein mit Betroffenen ein ganz wichtiges Element ist für ihn selber – im Kontakt zu bleiben mit der so schmerzhaften Wirklichkeit, die Betroffene erleben.
Und ich glaube, dass das eben seine große Stärke ist: seine Menschlichkeit, seine Empathie-Fähigkeit, und dass er dem Schmerz, den Wunden, dem Ärger, der Enttäuschung, den Depressionen von Betroffenen persönlich nicht ausweicht. Darin ist er ein wirkliches Vorbild. Ich meine, das ist seine große menschliche Stärke, die er ja auch bei Migranten und armen Leuten oder bei jenen zeigt, die sonst an den Rand gedrängt sind. Da geht sein Herz auf. Da sieht man, dass er sich wirklich auch identifiziert mit dem Leid dieser Menschen. Und das kommt an bei ihnen. Das habe ich oft selber mitbekommen...
Ich glaube, dass er da insofern ein tatsächliches Modell ist, auch für die Kirchenleitenden, also Bischöfe, Ordensoberinnen, Ordensobere, alle Verantwortlichen der Kirche: dass wir Betroffene nicht einfach nur als lästig oder als jene apostrophieren, die der Kirche schaden, weil sie schlecht von Ehe oder von Priestern oder Ordensleuten reden, sondern dass wir sie tatsächlich als Menschen sehen, die eine offene Tür brauchen und vor allem offene Herzen und auch einen Platz in der Kirche. Damit ihnen nicht nur zugehört wird, sondern damit sie auch mitgestalten können!
Und das ist tatsächlich anders: Also, kurz bevor wir hier gesprochen haben, war eine Person bei mir, die mir sehr eindrücklich geschildert hat, wie stark geistlicher Missbrauch in einer der neueren geistlichen Gemeinschaften, die es in der Kirche gibt, gespürt wird. Wie Menschen in ihrer Freiheit nicht nur eingeschränkt werden, sondern sie ihnen tatsächlich genommen wird; wie sie ihrer Zukunftsmöglichkeiten beraubt werden, und das alles unter der Maßgabe, dass es Gottes Wille sei, was da von einem Oberen beschlossen ist. Und diese Person sagte zu mir gerade vorhin: ,Was ich Ihnen jetzt gesagt habe, das hätte ich vor zehn Jahren nicht sagen können, weil ich mich nicht ermutigt gefühlt hätte und weil es in der gesamten Stimmung, in der Atmosphäre, die in Rom und in anderen Teilen der Kirche herrscht, nicht möglich gewesen wäre.‘
Das hat sich eben deutlich verändert! Insofern sieht man, dass gerade auch in diesen letzten zehn Jahren sehr viel geschehen ist – auf der gesetzlichen, aber auch auf der Wahrnehmungs-Ebene. Was wir wirklich noch brauchen, ist das Ausbuchstabieren und Umsetzen der institutionellen Anfragen und Konsequenzen, die wir sehen. Und es ist die schon vorhin angedeutete Frage: Welchen Platz haben Betroffene auch aus ihrem eigenen Verständnis her in der Kirche und in ihren Institutionen?“
Das Feld Missbrauch hat sich ja thematisch erweitert, das haben Sie auch angesprochen - dass nämlich der Missbrauch von Ordensfrauen, der spirituelle Missbrauch und auch der Missbrauch von Macht in den letzten Jahren stärker ins Bewusstsein gerückt sind. Wie wird das die Kirche und deren Sicht auf das Thema Missbrauch in den nächsten Jahren verändern?
?Ich glaube, dass damit eine sehr große Anfrage an die Mission, an die Sendung, das Selbstverständnis, an die Prioritäten der Kirche verbunden ist. Die spannende Frage, auf die ich keine abschließende Antwort haben kann, lautet: Sind wir als Kirche (und damit spreche ich nicht nur von der Kirchenleitung, sondern auch von allen Gläubigen) bereit, diese Anfragen ernst zu nehmen und daraus auch unsere Schlüsse zu ziehen und sie umzusetzen? Ich muss sagen, dass ich da auf allen Ebenen, also sowohl in den Bistumsleitungen, Ordensleitungen als auch bei den Gläubigen, sehr viel Widerstand erlebe, und zwar oft aus dem Verständnis her: ,Wir wollen so weitermachen wie bisher. Wir wollen einige kleine kosmetische Änderungen vornehmen, aber an die Grundsatzfragen traut Mann und Frau sich nicht wirklich ran‘.
Und das ist für mich die Grundsatz- und die Zukunftsfrage auch für die Kirche. Denn es stimmt, dass der Missbrauch bei weitem nicht alles ist, was in der Kirche zu diskutieren ist. Aber in der Frage ?Wie konnte Missbrauch geschehen? Wie gehen wir mit Betroffenen um? Welche Konsequenzen ziehen wir daraus?‘ sehe ich alle Zukunftsfragen der Kirche gebündelt. Die Frage des Umgangs mit Macht. Die Frage der Professionalisierung Die Frage einer anderen Art von Spiritualität, die dem entspricht, wie wir heute in unserer Welt leben. Die Frage der Rechenschaftspflicht. Die Frage, wie wir wirklich entdecken: Was ist Kirche? Ist Kirche das, was wir uns über 50 Jahre vorgestellt haben als eine sich selbst perpetuierende und unhinterfragbare und unhinterfragte Realität? Oder sind wir uns dessen bewusst, dass es wirklich auch um eine Neuausrichtung und eine neue Motivation geht?
Ich sehe, ehrlich gesagt, schon einige Anzeichen dafür, dass Leute das verstehen. Aber es braucht noch sehr viel mehr Anstrengung und sehr viel mehr Überzeugung, damit das auch in der Mentalität der Menschen ankommt und auch zu einer Haltungsänderung führt. Denn alleine von oben angeordnet wird es genauso wenig funktionieren, wie wenn man nur von unten Druck aufzubauen versucht; sondern hier geht es wirklich darum, dass man sich wirklich ernsthaft gemeinsam auf die Suche macht.
Wofür steht die Kirche heute? Was will uns Jesus und was will uns das Evangelium sagen? Vor allem im Blick darauf, wie wir mit Menschen umgehen, die suchen, die Heilung suchen, die ein offenes Ohr suchen. Das sind Betroffene von sexueller Gewalt, es sind Betroffene von geistlicher Gewalt. Es sind aber eben auch Menschen, die allein sind, die einsam sind, die sich in dieser Gesellschaft verloren vorkommen. Die suchen ja nach einer spirituellen Beheimatung, die aber eben auch menschlich gesehen in Ordnung sein muss. Und das finden sie halt leider in vielen Teilen der Kirche nicht. Die Frage, wie wir Gemeinschaft gestalten, wofür Pfarrgemeinden stehen und wie Zusammenhalt funktioniert, muss sich eben auch abbilden im Umgang miteinander – und da sehe ich viel Luft nach oben. Auch wenn man sieht, wie Bischöfe miteinander umgehen, wie Ordensgemeinschaften miteinander umgehen und wie in unseren Institutionen Menschen einen Platz finden, die sich sonst nicht beheimatet fühlen.“
Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und Sie selbst haben einiges bewirkt, auch durch Konferenzen zur Bewusstseinsbildung in verschiedenen Ländern und durch ein E-Learning-Schulungsprogramm für kirchliche Mitarbeiter weltweit. An welchem Punkt sehen Sie denn die Kirche mit der Prävention weltweit? Greifen diese Maßnahmen?
?Dass Maßnahmen für Prävention von Missbrauch, zum Kinderschutz und zum Schutz von schutzbefohlenen Personen greifen, sehen wir: Dort, wo sie konsequent umgesetzt werden, sind die Zahlen der Neuanschuldigungen drastisch gesunken. Das lässt sich wissenschaftlich belegen, und das lässt sich auch so belegen, dass man sagen kann: Das liegt nicht nur daran, dass Betroffene von Missbrauch lange Jahre oder Jahrzehnte brauchen, um darüber zu reden. Dazu haben wir auch tatsächlich schon wissenschaftlich fundierte Daten.
Was wir nicht wissen, ist: Was sind tatsächlich jene Maßnahmen, die am meisten effektiv sind, also die am meisten Missbrauch verhindern? Dazu forschen wir. Und das ist ja interessant, dass das in der Wissenschaftswelt insgesamt bisher noch keine große Rolle gespielt hat.
Unser Einsatz an diesem Institut für Anthropologie, das wir auch ?Safeguarding-Institut‘ nennen, ist tatsächlich dazu da, dass wir weltweit über unsere Studierenden hier in Rom und über das E-Learning-Programm in Partnerschaften mit verschiedenen Institutionen weltweit versuchen, nicht nur Bewusstsein zu schaffen, sondern die Kompetenzen von kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu schulen. Jetzt wollen wir auch einen Schritt darüber hinausgehen. Mit einer Neuauflage des Blended Learning-, des E-Learning-Programms wollen wir auch Institutionen erreichen, die außerhalb der Kirche agieren.
Unsere Beheimatung und unser Standpunkt ist ein akademischer; wir sind eine universitäre Einrichtung, wir betreiben Forschung, wir bilden Leute aus. Und wir glauben als Bildungsinstitution, dass über Ausbildung, Fortbildung und Bildung insgesamt tatsächlich Veränderung geschieht. Wir versuchen, pädagogisch darauf einzugehen; wir versuchen, es weiterzuentwickeln… Das sind Dinge, die man mittel- und langfristig sehen wird.“
Das Interview führte Anne Preckel.
(vatican news)
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