Wortlaut: Papstrede beim Gebet für den Nahen Osten
Auf vatican.va finden Sie wie üblich diesen und alle weiteren offiziellen Papsttexte in den verschiedenen Übersetzungen.
ANSPRACHE DES HEILIGEN VATERS
Gebetsstunde zum 10. Jahrestag des
?Aufrufs zum Frieden im Heiligen Land“
7. Juni 2024
Eminenzen, Exzellenzen, liebe Brüder und Schwestern!
Ich danke euch, dass ihr hier seid, um den 10. Jahrestag des Aufrufs zum Frieden im Heiligen Land zu feiern. Danke!
Der damalige Staatspräsident Israels, der verstorbene Shimon Peres, und der Präsident des Staates Palästina, Mahmoud Abbas, nahmen meine Einladung an, hierher zu kommen, um von Gott das Geschenk des Friedens zu erflehen. Einige Wochen zuvor war ich als Pilger im Heiligen Land gewesen und hatte ebendort den großen Wunsch geäußert, dass sich die beiden treffen, um ein bedeutendes und historisches Zeichen für den Dialog und den Frieden zu setzen. Ich bin dem Herrn für jenen Tag sehr dankbar und bewahre in meinem Herzen die Erinnerung an die bewegende Umarmung der beiden Präsidenten in Anwesenheit des Ökumenischen Patriarchen Bartholomäus I. und von Vertretern der christlichen, jüdischen und muslimischen Gemeinden Jerusalems.
Heute ist es wichtig, sich an jenes Ereignis zu erinnern, besonders in Anbetracht dessen, was bedauerlicherweise in Israel und Palästina geschieht. Seit Monaten erleben wir nunmehr, wie sich die Feindseligkeit immer weiter ausbreitet und wir sehen viele unschuldige Menschen vor unseren Augen sterben. All dieses Leid, die Brutalität des Krieges, die Gewalt, die er entfesselt, und der Hass, den er auch in zukünftigen Generationen sät, sollten uns davon überzeugen, dass »jeder Krieg […] die Welt schlechter [hinterlässt], als er sie vorgefunden hat. Krieg ist ein Versagen der Politik und der Menschheit, eine beschämende Kapitulation, eine Niederlage gegenüber den Mächten des Bösen« (Enzyklika Fratelli tutti, 261).
Statt uns vorzumachen, dass Krieg Probleme lösen und zum Frieden führen könne, müssen wir deshalb kritisch und wachsam gegenüber einer heute leider vorherrschenden Ideologie sein, nach der »Konflikte, Gewalt und Gräben zum normalen Funktionieren einer Gesellschaft gehören« (ebd., 236). Es geht immer um Machtkämpfe zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, um wirtschaftliche Partikularinteressen und um internationale politische Abwägungen, die auf einen scheinbaren Frieden abzielen und vor den wahren Problemen weglaufen.
Stattdessen brauchen wir in einer Zeit, die von tragischen Konflikten geprägt ist, ein neues Engagement für den Aufbau einer friedlichen Welt. Allen Gläubigen und Menschen guten Willens möchte ich sagen: Hören wir nicht auf, vom Frieden zu träumen und friedvolle Beziehungen aufzubauen!
Jeden Tag bete ich dafür, dass dieser Krieg beendet wird. Ich denke an alle, die leiden, in Israel und Palästina: an Christen, Juden und Muslime. Ich denke daran, wie dringend es ist, dass aus den Trümmern des Gazastreifens endlich der Entschluss zur Einstellung der Kampfhandlungen hervorgeht und bitte daher um einen Waffenstillstand; ich denke an die Familienangehörigen und an die israelischen Geiseln und bitte darum, dass sie so schnell wie möglich freigelassen werden; ich denke an die palästinensische Bevölkerung und bitte darum, dass sie geschützt wird und alle erforderliche humanitäre Hilfe erhält; ich denke an die vielen, die durch die Kampfhandlungen vertrieben wurden und bitte darum, dass ihre Häuser bald wieder aufgebaut werden, damit sie in Frieden dorthin zurückkehren können. Ich denke auch an jene Palästinenser und Israelis guten Willens, die inmitten von Tränen und Leid nicht aufhören, auf die Ankunft eines neuen Tages zu hoffen, und die sich bemühen, den Anbruch einer friedvollen Welt zu erwarten, in der alle Völker »ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden und ihre Lanzen zu Winzermessern. Sie erheben nicht das Schwert, Nation gegen Nation, und sie erlernen nicht mehr den Krieg« (Jes 2,4).
Wir alle müssen uns dafür einsetzen, dass ein dauerhafter Frieden erreicht wird, in dem der Staat Palästina und der Staat Israel Seite an Seite leben können, indem die Mauern der Feindschaft und des Hasses niedergerissen werden. Uns allen muss Jerusalem am Herzen liegen, damit es zur Stadt der geschwisterlichen Begegnung zwischen Christen, Juden und Muslimen wird, die durch ein besonderes, auf internationaler Ebene garantiertes Statut geschützt ist.
Brüder und Schwestern, wir sind heute hier, um den Frieden zu erflehen. Wir erbitten ihn von Gott als ein Geschenk seiner Barmherzigkeit. Frieden wird nämlich nicht nur durch Abkommen auf dem Papier oder durch menschliche und politische Kompromissvereinbarungen geschaffen. Er geht aus verwandelten Herzen hervor, er entsteht, wenn jeder von uns von Gottes Liebe erreicht und berührt wird, die unsere Egoismen auflöst, unsere Vorurteile zerschmettert und uns das Glück und die Freude von Freundschaft, Geschwisterlichkeit und gegenseitiger Solidarität schenkt. Es kann keinen Frieden geben, wenn wir nicht zuerst zulassen, dass Gott selbst unser Herz entwaffnet, um es empfänglich, mitfühlend und barmherzig werden zu lassen.
Und deshalb wollen wir heute Abend unser Gebet erneuern, wollen wir unsere Bitte um Frieden erneut an Gott richten, wie vor zehn Jahren. Wir wollen den Herrn bitten, den Olivenbaum, den wir an jenem Tag pflanzten, weiter wachsen zu lassen: Er ist bereits kräftig und üppig geworden, weil er vor den Winden geschützt und mit Sorgfalt bewässert worden ist. Genauso müssen wir Gott bitten, dass der Frieden im Herzen eines jeden Menschen, in jedem Volk und jeder Nation, in jedem Winkel der Erde aufkeimen kann, geschützt vor den Winden des Krieges und bewässert von denen, die sich jeden Tag bemühen, in Geschwisterlichkeit zu leben.
Hören wir nicht auf, vom Frieden zu träumen, der uns die unerwartete Freude schenkt, uns als Teil einer einzigen Menschheitsfamilie zu fühlen. Diese Freude habe ich vor ein paar Tagen in Verona in den Gesichtern jener beiden Väter, einem Israeli und einem Palästinenser, gesehen, die sich vor aller Augen umarmten. Das ist es, was Israel und Palästina brauchen: eine Umarmung des Friedens!
Bitten wir also den Herrn, dass die Oberhäupter der Nationen und die Konfliktparteien den Weg der Eintracht und Einigkeit wiederfinden mögen. Dass alle einander als Geschwister anerkennen. Darum bitten wir den Herrn und wir wiederholen auf die Fürsprache von Maria, der Jungfrau von Nazaret, der Königin des Friedens, das Gebet von vor zehn Jahren:
Herr, Gott des Friedens, erhöre unser Flehen! Viele Male und über viele Jahre hin haben wir versucht, unsere Konflikte mit unseren Kräften und auch mit unseren Waffen zu lösen; so viele Momente der Feindseligkeit und der Dunkelheit; so viel vergossenes Blut; so viele zerbrochene Leben; so viele begrabene Hoffnungen … Doch unsere Anstrengungen waren vergeblich. Nun, Herr, hilf Du uns! Schenke Du uns den Frieden, lehre Du uns den Frieden, führe Du uns zum Frieden! Öffne unsere Augen und unsere Herzen, und gib uns den Mut zu sagen: ?Nie wieder Krieg!“; ?Mit dem Krieg ist alles zerstört!" Flöße uns den Mut ein, konkrete Taten zu vollbringen, um den Frieden aufzubauen.
Herr, Gott Abrahams und der Propheten, Du Gott der Liebe, der Du uns erschaffen hast und uns rufst, als Brüder zu leben, schenke uns die Kraft, jeden Tag Baumeister des Friedens zu sein; schenke uns die Fähigkeit, alle Mitmenschen, denen wir auf unserem Weg begegnen, mit wohlwollenden Augen zu sehen. Mach uns bereit, auf den Notschrei unserer Bürger zu hören, die uns bitten, unsere Waffen in Werkzeuge des Friedens zu verwandeln, unsere Ängste in Vertrauen und unsere Spannungen in Vergebung. Halte in uns die Flamme der Hoffnung am Brennen, damit wir mit geduldiger Ausdauer Entscheidungen für den Dialog und die Versöhnung treffen, damit endlich der Friede siege. Und mögen diese Worte – Spaltung, Hass, Krieg – aus dem Herzen jedes Menschen verbannt werden!
Herr, entwaffne die Zunge und die Hände, erneuere Herzen und Geist, damit das Wort, das uns einander begegnen lässt, immer ?Bruder“ laute und unser Leben seinen Ausdruck finde in ?Shalom, Frieden, Salam“! Amen.
(vatican news)
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