Pius XII.: Neues und Altes aus den Archiven
Papst Franziskus hat im März 2020 die Öffnung der vatikanischen Archive zum Pontifikat des Pacelli-Papstes verfügt; und die Dossiers, Akten und Briefwechsel der Jahre 1939 bis 1958 werfen nach Napolitanos Ansicht neues Licht auf ein kontroverses Pontifikat.
?Die Figur von Pius XII. muss dank der neuen Dokumente sicherlich weiter analysiert werden. In der Debatte über ihn war immer die Rede vom mangelnden Zugang zu den vatikanischen Dokumenten, von einer Lücke in den Archiven. Jetzt sind die Dokumente da, sie sind seit drei Jahren verfügbar, und so können wir jetzt endlich über alle Aspekte des Pontifikats von Pius XII. sprechen: sowohl die diplomatischen als auch die, die mit der italienischen Politik oder dem Kalten Krieg zu tun haben, was ein weiteres unerforschtes Gebiet ist. Wir studieren auch die internen Papiere seines eigentlichen Büros, seiner engsten Mitarbeiter…“
?Weder Hitlers Papst noch Antisemit“
Für den Geschichts-Professor der Universität Molise, der zum Päpstlichen Komitee für Geschichtswissenschaften gehört, stützen die neuen Dokumente einen Befund, der in der Forschung immer mehr Raum gewinne: Pius XII. sei weder ?Hitlers Papst“ noch Antisemit gewesen. Napolitano widerspricht damit der These des Hochhuth-Theaterstücks ?Der Stellvertreter“, die vor allem in der angelsächsischen Geschichtswissenschaft oft aufgegriffen worden ist.
Vieles an den Dokumenten in den vatikanischen Archiven ist, so formuliert Napolitano, ?neu, aber auch uralt“. ?In dem Sinn, dass die Archive die großen Linien bestätigen, die sich bereits in der Dokumentation aus den 60er Jahren gezeigt haben. Diese Dokumentation entstand im Auftrag von Paul VI. nach der Kontroverse über das so genannte Schweigen von Pius XII. angesichts der Shoah. Das war eine metahistorische Kontroverse, entstanden durch ein Theaterstück, das auf unerklärliche Weise zu einem Eckpfeiler der Geschichtsschreibung wurde.“
Schon die vatikanische Dokumentation, die der Jesuit Pierre Blét zusammenstellte, konnte sich auf die damals der Forschung noch nicht zugänglichen vatikanischen Archive zum Pontifikat von Pius XII. stützen. Allerdings fand die Edition unter Zeithistorikern nicht die Beachtung, die sie verdient hätte – vielleicht auch deshalb, weil viele Forscher schlicht der französischen Sprache der Erläuterungen nicht mächtig waren.
Komplexere Analyse möglich
?Die neu zugänglichen Papiere demontieren vollständig die Vorstellung, dass der Stellvertreter Christi auf Erden, also damals Pius XII., ein passiver Antisemit gewesen wäre, der angesichts der Shoah schwieg, und so weiter. Das ist jetzt Mythologie. Sagen wir mal so: Wir haben jetzt sozusagen das Metaversum verlassen und sind in eine komplexere Analyse eingetreten – gerade weil die Zahl der Papiere und ihre Konsistenz so groß ist, dass sie über viele Jahre und wahrscheinlich von mehreren Generationen von Historikern untersucht werden müssen.“
Napolitano hat am Montagabend auf einer Konferenz in Rom einige seiner bisherigen Erkenntnisse vorgestellt. Besonders wichtig ist ihm, zu widerlegen, dass der Vatikan absichtlich eine Öffnung der Archive zur heiklen Zeit des Weltkriegs herausgezögert hätte.
Der Vatikan und die Nürnberger Prozesse
?Der Vatikan wurde bei den Nürnberger Prozessen als eine Art Hilfsrichter bei der öffentlichen Anklage gegen die Nazis betrachtet. Tatsächlich stellte der Heilige Stuhl damals Unterlagen aus seinen Büros für den Prozess zur Verfügung; die erste Öffnung vatikanischer Papiere geht also nicht auf Paul VI. zurück, sondern sogar auf die Nürnberger Prozesse!“ Die Ankläger – Vertreter der Siegermächte – seien damals auf die Bewertungen des Papstes über das Naziregime aufmerksam gemacht worden.
Professor Napolitano hält auch nichts davon, die Tatsache, dass der Heilige Stuhl 1933 ein Konkordat mit Hitler-Deutschland unterzeichnete, gegen Pius XII. - damals noch Kardinalstaatssekretär Pacelli - zu wenden. Man werte dieses Konkordat fälschlich als eine Anerkennung des Nazi-Regimes durch Pacelli, der bald darauf zum Papst gewählt wurde.
?Das ist es keineswegs, und zwar aus einem einfachen Grund: nicht nur, weil seine Aushandlung vor Hitlers Amtsantritt begann, sondern vor allem, weil das Konkordat von 1933 noch heute gilt! Viele der von Hitler geschlossenen Verträge sind überholt, doch das Konkordat ist geblieben und bestimmt noch immer die Beziehungen zwischen dem heutigen Deutschland und dem Heiligen Stuhl.“ Außerdem ergebe es sich aus den jetzt zugänglichen Unterlagen, ?dass Hitler dieses Konkordat aufheben wollte“, sagt der Forscher.
Der Vatikan hätte gegen die Razzia im römischen Ghetto protestiert, aber...
Auch zur Haltung des Papstes zur Razzia im jüdischen Ghetto von Rom sprechen die Papiere aus den Archiven eine klare Sprache, so Napolitano. Die SS verschleppte am 16. Oktober 1943, einem Sabbat, über tausend Juden in Vernichtungslager.
?Die Papiere zeigen, dass der Heilige Stuhl überhaupt kein Problem damit hatte, zu protestieren. Vielmehr war es der deutsche Botschafter, der erst im Juli eingetroffen war und der jetzt einer komplexen Lage gegenüberstand: Er bat das vatikanische Staatssekretariat, Hitler nichts von seiner Audienz vom 16. Oktober zu berichten. Es gab zwar eine klare Forderung des Staatssekretariats, die Razzia sofort einzustellen; doch der Botschafter wollte Berlin den Eindruck vermitteln, dass es kein Problem mit dem Vatikan gebe. Abgesehen von der tragischen Deportation von mehr als tausend römischen Juden in die Vernichtungslager gab es eine Reihe von Juden, die untertauchen konnten und die in verschiedenen katholischen Einrichtungen in Rom Zuflucht fanden. Wir gehen von etwa 4.000-4.500 Juden aus, die in kirchlichen Einrichtungen aufgenommen wurden. Dies wird auch durch die Archive von Yad Vashem bestätigt.“
Und heute?
Man kann die Auswertung der vatikanischen Archive zur Nazi-Zeit als Gelegenheit sehen, einen komplexeren Eindruck von Haltung und Agieren des Heiligen Stuhls in dieser schwierigen Epoche zu bekommen. Aber vielleicht lässt sich auch für heute etwas lernen? Schließlich findet sich der Papst heute in der Ukraine in einer durchaus vergleichbaren Lage wieder. Und wie sein Vorgänger Pius vermeidet es auch Franziskus achtzig Jahre später, den Aggressor allzu deutlich zu brandmarken, um sich die Chance, vielleicht mal als Vermittler aufzutreten, nicht zu verbauen…
(vatican news – sk mit material von s. cernuzio)
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