Wortlaut: Papst Franziskus bei der Generalaudienz
Liebe Brüder und Schwestern, guten Morgen!
Das schöne Gebet des alten Menschen in Psalm 71 ermutigt uns, über die starke Spannung nachzudenken, die dem Alter innewohnt – wenn die Erinnerung an überwundene Anstrengungen und empfangene Segen den Glauben und die Hoffnung auf die Probe stellt.
Die Prüfung stellt sich bereits mit der Schwäche ein, die mit dem Übergang zur Gebrechlichkeit und Verletzlichkeit des Alters einhergeht. Und der Psalmist - ein älterer Mann, der sich an den Herrn wendet - erwähnt ausdrücklich, dass dieser Prozess zum Anlass wird für Verlassenheit, Täuschung, Ausflüchte und Arroganz, denen ältere Menschen bisweilen zum Opfer fallen. Eine Form der Feigheit, auf die wir uns in dieser Gesellschaft spezialisiert haben. Das ist die Kultur des Aussonderns.
Kritik an der Wegwerfkultur
Es mangelt in der Tat nicht an Menschen, die das hohe Alter anderer Menschen ausnutzen, um diese zu betrügen und sie auf vielfältige Weise einzuschüchtern. Oft lesen oder hören wir in den Nachrichten von Senioren, die skrupellos betrogen werden, um an ihre Ersparnisse zu kommen. Die schutzlos und ohne Betreuung zurückgelassen werden. Die beleidigt und eingeschüchtert werden durch Formen der Verachtung, damit sie die eigenen Rechte aufgeben. Solche Grausamkeiten kommen auch in Familien vor, das ist schlimm. Die an den Rand gedrängten Alten, die aussortiert und wegsortiert werden in Pflegeeinrichtungen – und die Kinder gehen niemals hin, nur ein paar Mal im Jahr. Alte Leute, die in die Ecke der Existenz gedrängt werden, und das passiert in Familie und Gesellschaft. Darüber sollten wir nachdenken.
Die ganze Gesellschaft sollte sich dringend um ihre Alten kümmern, die immer zahlreicher und oft auch immer mehr sich selbst überlassen werden. Wenn wir hören, dass ältere Menschen ihrer Selbständigkeit, Sicherheit, ja sogar ihrer Wohnung beraubt werden, verstehen wir, dass die Ambivalenz der heutigen Gesellschaft gegenüber älteren Menschen kein Problem gelegentlicher Notfälle ist, sondern ein Merkmal jener Wegwerfkultur, die unsere Welt vergiftet.
Der alte Mann im Psalm vertraut Gott sein Unbehagen an: ?Meine Feinde haben gegen mich geredet, die auf mich lauern, haben sich gemeinsam beraten. Sie sagen: Gott hat ihn verlassen. Verfolgt und ergreift ihn! Für ihn gibt es keinen Retter.“ (V. 10-11)
Angst vor Verlust der Würde
Die Folgen sind fatal. Das Alter verliert nicht nur seine Würde, es wird sogar angezweifelt, dass es ein Weiterleben verdient. So sind wir alle versucht, unsere Verletzlichkeit zu verstecken, unsere Krankheit, das eigene Alter und unsere hohe Zahl an Lebensjahren zu verheimlichen, weil wir fürchten, dass dies eine Vorstufe ist zum Verlust unserer Würde.
Fragen wir uns: Ist es menschlich, dieses Gefühl hervorzurufen? Wie kommt es, dass sich die moderne Zivilisation, die so fortschrittlich und effizient ist, so wenig mit Krankheit und Alter anfreunden kann? Und wie kann es sein, dass die Politik, die sich so sehr dafür einsetzt, die Grenzen eines menschenwürdigen Überlebens zu definieren, gleichzeitig unempfänglich ist für die Würde eines liebevollen Zusammenlebens mit alten und kranken Menschen?
Der alte Mann im Psalm, der sein Alter als eine Niederlage ansieht, entdeckt das Vertrauen in den Herrn wieder. Er hat das Bedürfnis, sich helfen zu lassen. Und er wendet sich an Gott. Der heilige Augustinus ermahnt in seinem Kommentar zu diesem Psalm den alten Menschen: ?Fürchte dich nicht, im Alter verlassen zu werden. [...] Warum fürchtest du, dass [der Herr] dich im Stich lässt, dass er dich im Alter, wenn deine Kräfte nachlassen, zurückweist? Denn gerade dann wird seine Kraft in euch sein, wenn die eure versagt“ (PL 36, 881-882). Und der ältere Psalmist ruft: ?Rette mich in deiner Gerechtigkeit! Neige dein Ohr mir zu und hilf mir! Sei mir ein schützender Fels, zu dem ich allzeit kommen darf! Du hast geboten, mich zu retten, denn du bist mein Fels und meine Festung.“ (Vv. 2-3).
Jedes Alter ist Teil des Lebens
Diese Anrufung bezeugt die Treue Gottes und ruft seine Fähigkeit an, die Gewissen aufzurütteln, die durch ihre Unempfindlichkeit gegenüber dem Gleichnis des sterblichen Lebens, das in seiner Integrität bewahrt werden muss, vom Weg abgekommen sind. So betet er erneut: ?Gott, bleib doch nicht fern von mir! Mein Gott, eile mir zu Hilfe! Alle, die mich bekämpfen, sollen scheitern und untergehn. Über sie komme Schmach und Schande, weil sie mein Unglück suchen.“ (V. 12-13). In der Tat sollten sich diejenigen schämen, die die Schwäche von Krankheit und Alter ausnutzen.
Das Gebet erneuert im Herzen des alten Menschen die Verheißung der Treue und des Segens Gottes. Der ältere Mensch entdeckt das Gebet wieder und legt Zeugnis ab von der Kraft des Gebetes. In den Evangelien weist Jesus das Gebet derer, die Hilfe brauchen, niemals zurück. Die älteren Menschen können aufgrund ihrer Schwäche die Menschen in anderen Lebensabschnitten lehren, dass wir uns alle dem Herrn hingeben und seine Hilfe in Anspruch nehmen müssen. In diesem Sinne müssen wir alle vom Alter lernen: Ja, es ist ein Geschenk, alt zu sein, verstanden als Hingabe an die Fürsorge der anderen, angefangen bei Gott selbst.
Vom Alter lernen
Es gibt also ein ?Lehramt der Zerbrechlichkeit“ - so was gibt es wirklich! - , an das uns das Alter für die gesamte Dauer des menschlichen Lebens glaubhaft erinnern kann. Dieses Lehramt eröffnet einen entscheidenden Horizont für die Veränderung unserer eigenen Zivilisation, für einen Wandel, der heute für das Zusammenleben aller unerlässlich ist. Die begriffliche und praktische Ausgrenzung des Alters verdirbt alle Lebensabschnitte, nicht nur den des Alters.
Jeder von uns kann sich heute Gedanken über die älteren Menschen in der Familie machen: Wie gehe ich mit ihnen um, erinnere ich mich an sie, besuche ich sie? Versuche ich, es ihnen an nichts fehlen zu lassen? Respektiere ich sie? Die Älteren in meiner Familie: Denken Sie an Mutter, Vater, Großvater, Großmutter, Onkel, Freunde ... Streiche ich sie aus meinem Leben? Oder wende ich mich an sie, um Weisheit zu erlangen, die Weisheit des Lebens? Denken Sie daran, dass auch Sie alt sind oder älter werden. Das Alter kommt für jeden. Und so, wie man im Alter behandelt werden möchte, so sollte man heute die älteren Menschen behandeln. Sie sind das Gedächtnis der Familie, das Gedächtnis der Menschheit, das Gedächtnis des Landes. Bewahre die Ältesten, die Weisheit sind.
Möge der Herr den älteren Menschen, die Teil der Kirche sind, die Großzügigkeit dieser Aufforderung und Provokation schenken. Zum Wohle aller, zum Wohle der Alten, zu unserem Wohl, zum Wohle der Kinder. Danke!
(vatican news)
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