Wortlaut: Papst Franziskus bei seiner Generalaudienz
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Liebe Brüder und Schwestern, guten Morgen!
In der Bibel geht dem Bericht über den Tod des alten Mose sein geistliches Testament voraus, das so genannte ?Lied des Mose“. Dieser Lobgesang ist vor allem ein schönes Glaubensbekenntnis: ?Ich will den Namen des Herrn verkünden, / unseren Gott preisen, / er ist der Fels, / vollkommen sind seine Werke, / gerecht sind alle seine Wege, / er ist ein treuer Gott, / ohne Falsch, er ist gerecht und aufrichtig" (Dtn 32,3-4). Aber es ist auch die Erinnerung an die mit Gott gelebte Geschichte, an die Abenteuer des Volkes, das aus dem Glauben an den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs entstanden ist. Und so erinnert sich Mose auch an die Bitterkeit und die Enttäuschungen Gottes selbst: Seine Treue wird immer wieder durch die Untreue seines Volkes auf die Probe gestellt. Der treue Gott und die Antwort des untreuen Volkes - als ob das Volk Gottes Treue auf die Probe stellen wollte. Und Gott bleibt ihnen immer treu, immer seinem Volk nah. Das ist der Knackpunkt des ?Lieds des Mose": Die treue Gottes die uns unser ganzes Leben begleitet.
Als Mose dieses Glaubensbekenntnis ablegt, steht er an der Schwelle zum verheißenen Land, aber auch zu seinem Abschied vom Leben. Er war hundertzwanzig Jahre alt, heißt es im Bericht, ?aber seine Augen waren nicht trübe“ (Dtn 34,7). Die Gabe, zu sehen, in der Realität sehen, aber auch im übertragenen Sinn, so wie viele Senioren. Ältere Leute, die hinter die Dinge sehen können. Die Vitalität seines Blicks ist ein kostbares Geschenk: Sie ermöglicht es ihm, das Erbe seiner langen Lebens- und Glaubenserfahrung mit der nötigen Klarheit weiterzugeben. Senioren sehen die Geschichte und geben sie weiter.
Ein Alter, dem diese Klarheit zuteil wird, ist ein kostbares Geschenk für die nachfolgende Generation. Es ist unersetzlich, die Geschichte des gelebten Glaubens mit all seinen Höhen und Tiefen persönlich und direkt zu hören. Es in Büchern zu lesen, in Filmen zu sehen oder im Internet nachzuschlagen, wie nützlich es auch sein mag, wird nie dasselbe sein. Diese Übertragung - das ist die eigentliche Tradition! Konkrete Weitergabe von alt zu jung, fehlt heute oft - und bei den neuen Generationen immer mehr. Warum? Weil die neue Gesellschaft glaubt, dass alte Menschen?Ausschussmaterial" seien, das abgeschoben werden kann - das ist brutal, so geht es nicht! Die direkte Erzählung von Mensch zu Mensch hat einen Ton und eine Art der Kommunikation, die durch kein anderes Medium ersetzt werden kann. Ein alter Mann, der lange gelebt hat und das Geschenk eines klaren und leidenschaftlichen Zeugnisses seiner Geschichte erhält, ist ein unersetzlicher Segen. Sind wir in der Lage, dieses Geschenk des Alters zu erkennen und zu würdigen? Folgt die Weitergabe des Glaubens - und des Sinns des Lebens - heute diesem Weg, den älteren zuzuhören? Ich kann hier ein eigenes Beispiel einbringen. Den Hass, die Wut auf den Krieg. Das habe ich von meinem Opa gelernt, der bei der Piaveschlacht 1914 dabei war. Er hat mir diese Wut auf den Krieg weitergegeben, denn er hat mir vom Leiden der Kriege erzählt. Und das ist etwas, das man nicht aus Büchern lernt oder sonstwo. Es wird von den Omas und Opas an die Enkel weiter gegeben. Und das ist unersetzlich: Die Weitergabe der Lebenserfahrung der Großeltern an die Enkel. Heute ist das leider nicht mehr so. Da werden Großeltern als Ausschussmaterial angesehen, nein, sie sind das lebendige Gedächtnis des Volkes und Kinder und Jugendliche sollten ihre Großeltern anhören.
In unserer Kultur, die so ?politisch korrekt“ ist, scheint dieser Weg in vielerlei Hinsicht eingeschränkt zu werden: in der Familie, in der Gesellschaft, in der christlichen Gemeinschaft selbst. Einige schlagen sogar vor, den Geschichtsunterricht abzuschaffen, da überflüssige Informationen über Welten, die nicht mehr relevant sind, dem Wissen über die Gegenwart Ressourcen entziehen. Das wäre, als wären wir gestern geboren.
Der Weitergabe des Glaubens fehlt dagegen oft die Leidenschaft einer ?gelebten Geschichte“. Den Glauben weitergeben ist nicht blabla bla, es ist eine Glaubenserfahrung weitergeben. Da ist es dann schwierig, Menschen dazu zu bewegen, sich für die ewige Liebe, die Treue zum gegebenen Wort, die Beharrlichkeit in der Hingabe, das Mitgefühl für verletzte und entmutigte Gesichter zu entscheiden. Natürlich müssen die Geschichten des Lebens in ein Zeugnis umgewandelt werden, und das Zeugnis muss aufrichtig sein. Eine Ideologie, die die Geschichte nach ihren eigenen Vorstellungen zurechtbiegt, ist gewiss nicht aufrichtig; eine Propaganda, die die Geschichte zur Förderung der eigenen Gruppe anpasst, ist nicht aufrichtig; es ist nicht Recht, die Geschichte in ein Tribunal zu verwandeln, in dem die Vergangenheit verurteilt und von jeder Zukunft abgeraten wird. Nein! Aufrichtig sein geht nur, wenn man die Geschichte, erzählt, wie man sie erlebt hat. Deshalb ist es sehr wichtig, alten Menschen zuzuhören, die Großeltern anzuhören, dass Kinder ihnen Fragen stellen.
Die Evangelien selbst erzählen aufrichtig die gesegnete Geschichte Jesu, ohne die Fehler, Missverständnisse und sogar den Verrat der Jünger zu verschweigen. Dies ist ein Zeugnis des Glaubens. Das ist die Wahrheit. Dies ist Zeugnis. Das ist die Gabe des Gedächtnisses, die die ?Ältesten“ der Kirche von Anfang an weitergeben, indem sie sie ?von Hand zu Hand“ an die nachfolgende Generation weitergeben. Wir sollten uns fragen: Wie viel Wert legen wir auf diese Weitergabe des Glaubens, auf die Übergabe des Staffelstabes zwischen den Ältesten der Gemeinschaft und den jungen Menschen, die sich der Zukunft öffnen? Und hier fällt mir etwas ein, was ich schon oft gesagt habe, aber ich möchte es wiederholen. Wie wird der Glaube übertragen? ?Ah, hier ist ein Buch, studiere es“: nein! So kann man keinen Glauben vermitteln. Der Glaube wird im Dialekt weitergegeben, d. h. in der Familiensprache, zwischen Großeltern und Enkeln, zwischen Eltern und Enkeln. Der Glaube wird immer im Dialekt weitergegeben, im vertrauten, erfahrungsreichen Dialekt der Jahre. Deshalb ist der Dialog in der Familie so wichtig, der Dialog der Kinder mit ihren Großeltern, die die Weisheit des Glaubens besitzen.
Manchmal denke ich über diese seltsame Anomalie nach. Heute stützt sich der Katechismus der christlichen Initiation großzügig auf das Wort Gottes und vermittelt genaue Informationen über Dogmen, die Moral des Glaubens und die Sakramente. Was jedoch oft fehlt, ist ein Wissen über die Kirche, das aus dem Hören und Bezeugen der wirklichen Geschichte des Glaubens und des Lebens der kirchlichen Gemeinschaft von den Anfängen bis zur Gegenwart stammt. Als Kinder lernen wir das Wort Gottes im Katechismusunterricht; aber als junge Menschen ?lernen“ wir die Kirche - die Kirche - im Klassenzimmer und in den globalen Informationsmedien.
Das Erzählen der Geschichte des Glaubens sollte wie das Hohelied des Mose, wie das Zeugnis der Evangelien und der Apostelgeschichte sein. Mit anderen Worten: eine Geschichte, die Gottes Segnungen emotional und unser Versagen aufrichtig in Erinnerung ruft. Es wäre gut, wenn die Katechese von Anfang an die Gewohnheit des Zuhörens einschließen würde, von der gelebten Erfahrung der Älteren ausgehend zum klaren Bekenntnis der von Gott empfangenen Segnungen, die wir bewahren müssen, bis zum treuen Eingeständnis unserer eigenen Fehler in der Treue, die wir ausbessern und korrigieren müssen. Die Älteren betreten das gelobte Land, das Gott sich für jede Generation wünscht, wenn sie den Jüngeren die schöne Initiation ihres Zeugnisses anbieten und ihre Glaubenserfahrung weitergeben, der Glaube im Dialekt, dieser vertrauten Sprache der Älteren an die Jüngeren. Dann treten ältere und junge Menschen unter der Führung des Herrn Jesus gemeinsam in sein Reich des Lebens und der Liebe ein. Aber alle gemeinsam. Die gesamte Familie, mit diesem großen Schatz des Glaubens, der im Dialekt weitergegeben wird. Danke.
(vatican news - mg/sst)
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