Missbrauchs-Studie im Bistum Essen: Mehr Fälle als bekannt
Stefanie Stahlhofen - Vatikanstadt
Laut der Essen sind insgesamt 201 Personen beschuldigt, darunter 129 Geistliche und 19 Ordensfrauen. Die neue Studie erstellte das Münchner Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) in Kooperation mit dem Berliner Institut für Bildung und Forschung (Dissens). Bei der Pressekonferenz am Dienstag erklärte Malte Täubrich (Dissens): „Den Datenquellen können wir entnehmen, dass sich 226 Betroffene gemeldet haben beim Bistum Essen, 120 davon haben Antrag auf Anerkennung gestellt und rund 25 Prozent der Betroffenen sind weiblich. Auf der Täterseite gibt es 190 Beschuldigte; davon sind 50 Prozent Diözesanpriester, zwei Prozent Diakone, zehn Prozent Ordenspriester, neun Prozent Ordensschwestern, 21 Prozent Kleriker und bei acht Prozent gab es keine Namensnennung, daher war dort keine Zuordnung möglich. "
Suche nach Ursachen
2018 hatte eine andere Studie für die Essener Diözese nur 60 beschuldigte Geistliche sowie 85 Betroffene seit der Gründung verzeichnet. Die Forschenden werteten in den vergangenen drei Jahren Personal- und Geheimakten des 1958 gegründeten Bistums Essen aus. Zudem führten sie Interviews etwa mit Betroffenen und veranstalteten Gruppendiskussionen in Gemeinden. Helga Dill (IPP) betonte, dass es der Studie weniger um Zahlen, als um Ursachen sexueller Gewalt im Bistum Essen ging: „Als unser Forschungsprojekt beauftragt wurde, gab es schon ziemlich breites Wissen über das Ausmaß von sexualisierter Gewalt im Bistum Essen. Es ging jetzt nicht darum, noch einmal zusätzlich Zahlen zu generieren, sondern um die Ermöglichungsbedingungen für sexuelle Gewalt."
Bis 2010 unzureichend reagiert
Malte Täubrich (Dissens) führte weiter aus, dass das Ruhrbistum bis ins Jahr 2010 unzureichend oder gar nicht auf Verdachtsfälle reagiert habe: „Das lag auch an der Versetzungspraxis, die es auch im Bistum Essen gab. Es wurde innerhalb oder über Bistumsgrenzen hinaus versetzt. Gerade die Versetzung über Bistumsgrenzen hinaus schafft ein Verantwortungsvakuum, wo die Täter dann teilweise unkontrolliert sexualisierte Gewalt ausüben können. Dementsprechend gibt es mehr Betroffene, als wenn angemessen reagiert worden wäre."
Kein klares Konzept
Wegen dieser mangelnden Verantwortungsübernahme und der Versetzung von Tätern sei die sexualisierte Gewalt nicht gestoppt worden und die Zahl der Betroffenen gestiegen. Zu diesem Zeitpunkt hätten Betroffene noch nicht im Fokus gestanden und es seien keine Bemühungen des Bistums festzustellen, Betroffene zu unterstützen oder ausfindig zu machen, so Täubrich. Auch die betroffenen Kirchengemeinden hätten die Fälle oft verdrängt und sich mit den Tätern solidarisiert. Ab 2010 änderte sich das Vorgehen, so Täubrich:
„Wir haben es das harte Durchgreifen genannt. Unserer Meinung nach ist das Ausdruck eines institutionellen Schuldgefühls, weil deutlich klar ist, die Jahrzehnte davor wurde Durchgreifen versäumt, daher musste das nun überkompensiert werden und mit extremer Härte gegen Täter vorgegangen werden, die teilweise schon alt und betagt sind. Es ändert sich jedoch nichts an der grundlegenden Haltung gegenüber dem Thema sexualisierter Gewalt - oder nur sehr, sehr gemächlich. Uns ist auch aufgefallen, dass es kein Konzept für den Umgang mit straffälligen Klerikern gibt. Der bisherige Umgang ist immer eine Einzelfalllösung, die nicht klar orientiert ist an bestimmten Richtlinien, es wird immer je nach Situation unterschiedlich entschieden."
Es sei „etwas Spezifisches" der katholischen Kirche, dass der Pfarrer als geweihter Mann idealisiert werde, so die Experten der Forschungsinstitute. Betroffene seien sozial ausgegrenzt und ihr Leid auch seitens der Gemeinde geleugnet worden. Täubrich sprach zudem von einem „Informationsvakuum" - Bistumsverantwortliche hätten die Gemeinden oft im Unwissen gehalten.
Bischof Overbeck sieht viele Fehler beim Bistum
2010 wurde der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche durch die aufgedeckten Vorfälle am Canisius-Kolleg in Berlin wesentlich bekannt gemacht. Ende 2009 trat der aktuelle Bischof Franz-Josef Overbeck sein Amt in Essen an. Er zeigte sich in einer ersten Reaktion selbstkritisch mit Blick auf die Institution Kirche: „Nach der Lektüre dieser Studie und dem, was wir heute gehört haben, ist für mich als Bischof von Essen - besonders im Blick auf die vielen Betroffenen - zu sagen, dass wir uns als Bistum deutlich vorhalten müssen: Es wurde viel vertuscht, kleingeredet, durch Versetzungen und Lügen auch verheimlicht. Und es ist den Betroffenen unglaubliches Unrecht widerfahren."
Die Bischöfe hätten nicht nur Betroffene vernachlässigt, sondern auch Kirchengemeinden alleine gelassen. Missbrauch sei nicht nur Schuld der einzelnen Täter, sondern auch ein systemisches Problem der Kirche. Nun gelte es, „sich ehrlich zu machen" und die Aufarbeitung professioneller aufzustellen. Generalvikar Klaus Pfeffer forderte, die Glorifizierung des Ruhrbistums zu beenden, das immer wegen seiner angeblichen Bodenständigkeit idealisiert worden sei. Gerade die Zeit unter dem ersten Bischof, Kardinal Franz Hengsbach, weise die meisten Meldungen an Missbrauchsfällen auf. Hengsbach stand der Diözese von 1958 bis 1991 vor.
Missbrauchsbetroffene: Nicht ernst genommen
Bei der Vorstellung der Studie des Bistums Essen kamen auch Missbrauchsbetroffene zu Wort. Einer von ihnen war Stefan Bertram. Er sagte: „Man sieht, dass wir Betroffene immer noch nicht ernst genug genommen werden, dass Fingerspitzengefühlt fehlt - teilweise empathielos. Wir brauchen mehr Transparenz.
Wenn ich höre, dass selbst unabhängige staatliche Institutionen wie Richter und Staatsanwälte nicht so streng gewesen sind, weil sie es sich mit der katholischen Kirche nicht verscherzen wollten, sage ich als Betroffener: Das ist alles zu meinen und unseren Kosten als Missbrauchsbetroffene geschehen. Wichtig ist für mich als Betroffener, dass das Bistum aus den Fehlern lernt und uns als Betroffenen zuhört. Zum Beispiel könnten erfahrene Betroffene andere Betroffene begleiten und ihnen bei den ersten Schritten helfen. Die katholische Kirche soll mit dem Missbrauch aufräumen und uns als Betroffene anständig entschädigen und behandeln."
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(kna/vatican news - sst)
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